Anfänge zu Ende lesen
Und warum das jede*r tun sollte.
David Graebner und David Wengrow geben gemeinsam mit Anfänge nicht weniger als eine neue Perspektive auf die Menschheitsgeschichte. Diese in ihrer Gesamtheit zu überarbeiten trauen sich nicht viele zu; dadurch verbleibt man selbst bei den Lehrbuch-Meinungen des Geschichtsunterrichts, abgesehen vom eigenen Fachgebiet. Eine kritische Revue des Anbeginn der Zivilisation selbst ist ja schon ein Grund, dieses Buch jedem zu empfehlen. Ich habe diesen 600-Seiten Türstopper von Anfang bis Ende Seite für Seite durchgelesen; sogar die Endnoten bisweilen nachgeschlagen. Genau diese Gründlichkeit möchte ich dringend anraten. Wieso? Das erkläre ich mit einer Einsicht, die ich diesem Buch in die Welt koffeinhaltiger Getränke verdanke. Diese Einsicht stützt eine der zentralen Thesen, die in dem Buch vorgebracht werden, nämlich dass die europäischen Aufklärer in der Entwicklung ihrer fortschrittlichen Ideen und emanzipatorischer Praktiken von den amerikanischen Ureinwohnern beeinflusst wurden.
Wieso Bücher überhaupt noch durchlesen?
Als hauptberuflicher Akademiker liest man ja noch kaum Bücher einfach so. Man überfliegt Text, blättert durch einzelne Kapitel, liest quer in der Suche auf Antworten auf bestimmte Fragen, oder begnügt sich überhaupt mit dem Abstract. Es ist unabdingbar sich ein so breites Set an Techniken der Textrezeption anzueignen. Diese Buchempfehlung auf zweierlei Arten zu verstehen: Es lohnt sich dieses Buch zu kaufen und Anfänge bis zum Ende durchzulesen.
Eine Anektode erklärt, wie ich zu dieser Praxis zurück gefunden habe. Im Zuge der Unibrennt-Proteste gründete sich auch die Arbeitsgruppe Bildungswissenschaft: Studenten der Pädagogik, die ähnlich den Klimaforscher*innen und Ökolog*innen dieser Tage sich durch ihre fachliche Spezialisierung berufen fühlten ihre Expertise dem Aktivismus zuzuführen. Im Zuge einer Diskussionsveranstaltung erinnere ich mich noch genau, wie ein Mittelbau-Lektor eine Frage in den Raum stellte, die so naheliegend schien und daher in ihrer Wichtigkeit übersehen wurde — einer jener Augenblicke, wo man im Moment des Erkennens erkennt, dass man gerade etwas erkennt. Seine Frage war schlicht: Wann habt Ihr zuletzt ein Buch zur Gänze gelesen? Nicht einen Text zur Vorbereitung des Seminars, nicht einen Artikel gescannt, eine Kopie eines Kapitels überflogen oder gar nur einer Mitschrift zur Prüfungsvorbereitung. Das betretene Schweigen der versammelten Studentenschaft sprach Bände. Der beklagenswerte Zustand der höchsten Bildungsanstalten spiegelte sich nicht zuletzt wieder im fragmentarischen Textkonsum ihrer Hochschülerschaft.
Die Ganzheit der Bücher
Das Buch wird durch intensive Lektüre deutlicher als konzeptionelles Konzept einer Erzählinstanz und ist nicht bloßer Datenträger. Sowie die großen Erzählungen für beendet und der Autor für Tod erklärt wurden, ist vielleicht die gemäß zahlreicher Prophezeiungen überfälligen Ablöse des Buchs von digitalen Readern auch eine Konsequenz des postmodernen Denkens. Mittlerweile ist klar: es werden immer noch Bücher geschrieben, gedruckt und distribuiert.
Schon oft todgesagt, aber noch nirgends begraben. So aktualisiert die Sturheit des Buchs im allgemeinen das eigentliche, schriftstellerische Problem im Einzelfall: Wer dazu ansetzt ein Buch zu schreiben, fragt sich: Wie gelingt der Sprung von einem konkret situierten, hochgradig spezialisiertem Wissen hin zur Anschauung des großen Ganzen? Wie gelingt die Einordnung der neuesten Recherchen in das bereits Bekannte? Die argumentativen Schritte, die ein Buch vorschreibt, könnten als ein materielles Substitut für diesen generellen Mangel an Allgemeingültigkeit gelten.
Die durchgehende Lektüre eines bestimmten Buchs ist mir jedenfalls ein Anliegen. Das Jahr 2022 verbrachte ich mit Anfänge von Grabner und Wengrow. Wie überaus zufrieden ich mit dieser Entscheidung sein sollte, war nicht von vornherein klar. Und da so eine intensive Lektüre viel Zeit kostet, muss die Wahl gut getroffen werden; und daher sei sie hier begründet.
Die Morgendämmerung aller Dinge
Wieso sollte nun jede*r von allen Büchern ausgerechnet Anfänge lesen? The Dawn of Everything, wie es im Originaltitel heißt, meint den Anbruch der Zivilisation. Das passt nicht nur thematisch vortrefflich, sondern ist an sich von großer Wichtigkeit. Diesen gilt es neu zu denken, da man gemeinhin annimmt, dass im Zuge der Sesshaftwerdung des Menschen und der frühen Stadtgründungen sich mithin Hierarchien zwangsläufig durchsetzen und Territorien abgegrenzt werden. Damit können Imperien aufsteigen und wieder fallen. Graeber und Wengrow lenken unseren Blick auf die unauffälligen, „dunklen“ Zeiten zwischen den Dynastien. In diesen sind vielleicht keine grandiosen Monumente entstanden, doch existieren Hinweise auf komplizierte Organisationsmuster — was dahingehend verstanden wird, dass es sich um grundsätzlich egalitärere Gesellschaften handelte. In diesen wurden ohne Rückgriff auf strukturelle Obrigkeit, gesellschaftlich komplexe Probleme gelöst, wie etwa die Verwaltung, Abfallwirtschaft oder Wasserversorgung großer Siedlungen.
Zivilisierung zwischen Anthropologie und Archäologie
Es braucht schon zwei Koryphäen ihrer jeweiligen Fächer um solche Thesen aufzustellen, welche die gesamte Geschichte umfassen. Es ist keine Popularisierung wissenschaftlicher Expertise, sondern eine Kritik an gängiger Geschichtserzählung. Die Autoren können erstaunen, weil sie weit verbreitete Annahmen hinterfragen und eine enorme Sättigung an Evidenz liefern — die man sich gut im genauen Durchlesen für Augen führen kann. Graebner, der Anthropologe von Weltruhm, vergegenwärtigt spekulativ das altsteinzeitliche Geschehen durch die Kulturen von Jägern und Sammlern heutzutage, während der Archäologe Wengrow die baulichen Zeugnisse der Vorgeschichte zum Sprechen bringt. Gemeinsam klammern sie eine entscheidende Wendung im historischen Verlauf ein: was gemeinhin die neolithische Revolution genannt wird, ist eine Konstruktion der aufgeklärten Moderne. Sie halten der plötzlichen Sesshaftwerdung, Urbanisierung und Hierarchisierung der Menschheit eine lange Periode spielerisch-experimentierfreudige Mischform von Kreislaufwirtschaften entgegen, in denen die Beteiligten sich selbst ihre Lebensweise bewusst offen gehalten hätten.
Die europäische Aufklärung wiederum könnte durch den Kontakt mit den indigenen Amerikanern angeregt worden sein — die wohl herausforderndste These des Buchs. Die sich damals artikulierenden Ideen von individueller Freiheit, sozialer Gleichheit und allgemeiner Selbstbestimmung, die allen Beherrschten Klassen zum gemeinsamen Anliegen haben müssten, hätten ihre Wurzeln in den politischen Praktiken der amerikanischen Ureinwohner. Diese pflegten einen beredten Umgang mit den hohen Ansprüchen, die an individuelle Freiheiten gestellt wurden. Die Europäer hingegen hatten in christlich-monarchischer Leibeigenschaft keine Gelegenheit freiheitliche Praktiken einzuüben. Dieses abgeschaute Freiheitsbewusstsein musste aus dialektischen Gründen den „edlen Wilden“ abgesprochen werden, um die Fortschrittlichkeit der eigenen Agenda zu unterstreichen und die gewaltsame Kolonisierung der Anderen zu rechtfertigen.
Aufgeklärte Geister in vernebelten Kaffeehäusern
Eine gängige Erzählung ist ja, dass sich bürgerliche Tugenden im Kaffeehaus antrainieren ließen. Es bot eine attraktive Form der Öffentlichkeit in welcher ein unzensierter Austausch unter ihresgleichen stattfinden konnte. Graebner und Wengrow zu Folge hat es für europäische Besucher durchaus Vorlagen gegeben, die ein Lernen am Modell einschlägiger emanzipatorischer Praktiken denkbar machen:
Ähnlich wie die Argumente, welche die Irokesen den Jesuitenmissionaren vortrugen (oder auch ihre Traumtheorien), wirken die Beschreibungen des täglichen Lebens in diesen post-mississipianischen Siedlungen oft verblüffend vertraut — vielleicht sogar beunruhigend für diejenigen, die der Vorstellung anhängen, das Zeitalter der Aufklärung gehe auf einen „zivilisatorischen Prozess“ zurück, der ausschließlich von Europa ausging. Bei den Creek etwa wurde das Amt des Mico auf die Funktion eines Versammlungsleiters beschränkt, der den gemeinschaftlichen Getreidespeicher verwaltete. Täglich versammelten sich die erwachsenen Männer einer Stadt, um den Tag überwiegend damit zu verbringen, im Geiste rationaler Debatten zu diskutieren und zu politisieren, wobei die Gespräche immer wieder unterbrochen wurden, um in den Pausen Tabak zu rauchen und koffeinhaltige Getränke zu sich zu nehmen. Sowohl Tabak als auch das „schwarze Getränk“ waren ursprünglich Drogen, die Schamanen oder andere spirituelle Meister in starken und hochkonzentrierten Dosen genossen, um veränderte Bewusstseinszustände herbeizuführen; nun aber wurden sie in sorgfältig bemessenen Portionen an alle Versammelten ausgegeben. Was Jesuiten aus dem Nordosten berichteten, scheint auch hier zuzutreffen: „Sie glauben, dass nichts so geeignet ist wie Tabak, um die Leidenschaften zu besänftigen; deshalb nehmen sie nie an einem Konzil teil, ohne eine Pfeife oder ein Kalumet im Mund zu haben. Der Rauch, so sagen sie, verleiht ihnen Weisheit und ermöglicht es ihnen, selbst die kompliziertesten Angelegenheiten klar zu durchschauen.“
Dies alles klingt verdächtigt nach einem Kaffeehaus der Aufklärung — und ist kein Zufall. Tabak wurde um diese Zeit von den Siedlern übernommen und zurück nach Europa gebracht, wo er sich wachsender Beliebtheit erfreute.
Das hier erwähnte schwarze Getränk — auch Asi genannt — wurde aus den gerösteten Blättern der Stechpalme Yaupon gewonnen. Es enthält ebenso Koffein und galt den europäischen Siedlern als Ersatz für Kaffee, der diesen durch den arabischen Einfluss vertraut war. „Offensichtlich fand hier keine direkte kulturelle Übertragung statt. Die gibt es im Übrigen nie“, schreiben Graebner und Wengrow.
Doch sowohl Substantiell (Nikotin, Koffein) aber auch dem reinen Anschein nach ähneln sich die begleitenden Umstände, mit denen man politische Selbstbestimmung zu praktizieren pflegt. Der Imperativ des sapere aude zeitigt sich als kulturelle Form, die man im europäischen Kaffeehaus nachahmen kann. Der einzelne Bürger ist plötzlich Teil eines funktionalen Meinungsaustausches, sowie die sich beratenden Cherokees. Das Kollektiv bildet sich hier wie da durch den Konsum von Tabak und Nikotin.
Eine solche Öffentlichkeit hat nicht nur rein medientechnische Vorraussetzungen, wie etwa die Druckerpressen und billiges Papier. Die Kommunikationskanäle, um die sich der Meinungsaustausch formiert, sind nicht an sich in von jeglichem Inhalt gereinigten Form verfügbar und so in reiner Funktionalität zu verstehen. Was eine gemeinschaftlich organisierte Mahlzeit von reiner Nahrungsaufnahme abhebt ist ein kultureller Unterschied. Analog hat die gepflegte, öffentliche Auseinandersetzung eine technische Grundlage, nämlich den Drogenkonsum. Das Gedankengut zirkuliert in von außen vielleicht ornamental anmutenden Ritualen gemeinsam mit Rauch und schwarzen Essenzen.
Das volle Programm
Ob es nun notwendig ist The Dawn of Everything eigens zu Ende zu lesen, kann nun wieder offen bleiben. Allgemeiner gesprochen ist die Relevanz eines wissenschaftlichen Buches einzuschätzen, wenn am Ende einer Lektüre das darin dargestellte Wissen sich auf die Anfänge des eigenen Denkens beziehen lässt: auf die grundlegenden Prinzipien und Voraussetzungen, die sonst unhinterfragt bleiben. In diesem Fall ist es Zivilisation selbst, die als moderne Leistung der spätkapitalistischen Gesellschaften für exklusiv beansprucht und damit anderen Kulturen abgesprochen wird, die so urplötzlich in früheren Epochen stecken geblieben scheinen.
Anfänge ist kein Theoriewälzer. Es ist es voll von empirischer Sachlichkeit, Esprit und kann in den archäologischen und anthropologischen Befunden uns diese perspektivische Illusion deutlich machen.
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