Der Tagtraum vom eigenen Café
Die Verarbeitung von Kaffee als Kulturform zwischen Konsum und Produktion
Wer kennt nicht den Traum selbst ein Café zu eröffnen? Wenn man ihn schon nicht selbst in aller Ausführlichkeit ausmalte, dann kennt man gewiss wen, der das schon tat. Vielleicht wurde diese Vision der Selbstständigkeit leicht variiert: ein etwas rustikaleres Gasthaus-Projekt oder zugespitzt als Austiegsprogramm: eine Coktailbar auf einer tropischen Insel. Auch eine Buchhandlung ist unter intellektuellen ein beliebtes Motiv. Jedenfalls sind dies alles Zerrspiegel in denen Widersprüche unserer Arbeitswelt und daraus resultierende Frustrationen aufgehoben sind. Als Unternehmer*in wäre man stets freundlich und fair mit seinen Mitarbeitern, man lieferte immer die gewünschte Qualität mit einer persönlichen Note und das funktioniert dann auch immer, da man ja sein eigener Chef ist und aus der Zufriedenheit mit der eigenen Tätigkeit Energie zu schöpfen vermag.
In der Kaffeekultur vermute ich das Paradigma all dieser Tagträumereien. Wieso Kaffee? Dieses Getränk entzieht sich einer allzu reibungslosen Warenform. Im Gegensatz zu Getränken, die in Flaschen daherkommen, stellt uns Kaffee immer noch vor das Problem der Zubereitung. Selbst der große Aufwand mit welchem technische Lösungen — von Vollautomaten, abgefüllte Getränke oder Kapselsysteme — vermarktet werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Kompromisse handelt; Kompromisse, mit denen wir im Büro auf alltäglicher Basis konfrontiert werden bzw. schon daheim, wenn wir uns für den Arbeitstag vorbereiten.
Am Anfang steht daher eine filmische Dramatisierung genau dieses Topos, des genügsamen Traums vom eigenen Kaffeehaus als Exit-Strategie aus dem Hamsterrad namens „Karriere”. Die Black Mirror-Folge Joan is awful bietet Gelegenheit, um nach kulturellem Stellenwert dieses höchst raffinierten Produkts zu fragen. Nicht zufällig thematisiert diese Netflix-Produktion zugleich die entgrenzte Arbeitswelt und ihr gleitendes Übergehen in Freizeitgestaltung. In digitaler Gegenwart sind alle Tätigkeiten gleichermaßen kulturindustriell vorgefertigt und somit einem dritten, parasitären Kalkül unterworfen, in dem nicht mehr die eigene ökonomische Rationalität zu erkennen ist. Das bringt uns zum Kaffeehaus als third place, weder Wohnort noch Betriebsstätte. Als Geschäft, in dem die Konsumationspflicht relativiert wird, fordert es die simple Einteilung des Alltags in Produktion und Konsum heraus. Die gesamte Existenz umfassende, duale Volkswirtschaftslehre wird von der Figur des Baristas als institutionalisiertes Gegenüber urbaner Flaneur*innen unterlaufen. Diese Rolle ist nach gastronomischen Gesichtspunkten weder Küche noch Service zuzuordnen. Barista sind Hybride — nicht Produzent*in, nicht Dienstleister*in. Sie verhandeln laufend unsere Arbeitsbereitschaft und leitet die Pausen an, die wir bisweilen von unserem Tun nehmen. Ihr Fehlen zu Hause oder im Büro lässt daher inmitten unserer Geschäftigkeit die Frage aufkommen, ob wir die Grenze zwischen Lohnarbeit, gesellschaftlicher Reproduktion und Muße richtig gezogen haben.
Die anwidernde Mittelmäßigkeit von Bürokaffee
Die abschließende Sequenz von Joan is awful, zeigt eine gar nicht schreckliche Joan, als stolze Eigentümerin ihres kleinen coffee shops. Sie hat sich ihren Traum der Selbstständigkeit erfüllt. Nun behandelt sie ihre Angestellten betont freundschaftlich, und begegnet ebenso ungezwungen ihren Kund*innen, zu denen sie auch renommierte Stars wie Annie Murphy zählen kann — diese spielt sich in der Szene selbst als enge Freundin der Barista. Ungeachtet der Prominenz serviert Joan ausschließlich Kaffee, der ihren eigenen höchsten Qualitätsansprüchen gerecht werden muss. Doch wäre all das keine typisch orwellianische Black Mirror-Episode, wenn nicht zuletzt dieses Happy End eine ironische Wendung erfährt: Sie zeigt uns die elektronischen Fußfesseln, die beide Freundinnen tragen, während sie sich über die Theke hinweg unterhalten.
Joan is awful handelt von „Joan is awful” — die neueste Innovation des fiktiven Streaming-Dienstes „Streamberry”, der optisch unverblümt Netflix selbst nachstellt. Die titelgebende Protagonistin ist Testsubjekt für ein neues Unterhaltungsformat, das ihren Tagesablauf am Abend öffentlich für die gesamte Zuseherschaft revue passieren lässt. Weil sie das Kleingedruckte in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht gelesen hat, hat sie mit dem Abschluss ihres Abonnements auch zugleich alle Persönlichkeitsrechte veräußerlicht. Ebenso hat Salma Hayek ihre Erscheinung verkauft. (Allerdings zu weit lukrativeren Konditionen.) Nun kann ein höchst potenter Computer in Echtzeit diese Show prozedural generieren und die unauffällige Mittelstands-Joan mit Salma Hayek in der Hauptrolle zum Vergnügen aller Nutzer*innen vollautomatisch inszenieren. Dabei wird deutlich übertrieben, um sie besonders unsympathisch erscheinen zu lassen: Wo die erste Joan auf Nachfrage ihres Assistenten etwas verlegen gesteht, dass der Kaffee im Büro ihr nicht so recht schmeckt, so kommentiert ihn Salma Hayek stellvertretend in ihrer Rolle als schreckliche Joan mit unverhohlenem Ekel: „Dog shit!”
Wie sich im Verlauf dieser Geschichte herausstellt, ist schon die als Joan eingeführte Annie Murphy bereits eine Fiktionalisierung einer „Source Joan”, schließlich (auch in der eingangs beschriebenen Endszene) dargestellt durch Kayla Lorette. Die divenhafte Salma Hayek-Joan stellt schon zur unbeholfenen Annie Murphy-Joan eine Überzeichnung dar. So lässt sich ausrechnen, dass die Original-Joan eigentlich sogar sehr bescheiden sein dürfte. Ihrer Gewöhnlichkeit entsprechend arbeitet sie im mittleren Management, aber ist dort schlicht unglücklich — so erfährt man es aus einem vertraulichen Therapie-Gespräch. Nach einem Schluck aus ihrem mitgebrachten Kaffeebecher verzieht sie das Gesicht, worauf sie die Therapeutin fragt, ob der Kaffee etwa nicht schmecke?
”Oh no, uhm… It used to be my dream to run my own coffeeshop. That would not have gone out with our name on it. Neither with the coffee on my job.”
— „How is your job?”
„On paper it’s fancy, I guess. But I’m just kind of like the middle man between the board up in the clouds and the staff „below me” — so I just kinda feel like I go through a lot of emotions every day.”
Der Traumjob ist auf den ersten Blick niedriger als der schicke Bürojob, der aber keinen soliden Pausenkaffee garantieren kann. Er entpuppt sich als „Bullshitjob”, womit David Graeber solche Stellen beschreibt, die auf Papier wie eine sichere Position mit angemessenem Gehalt zu sein scheinen, doch keinen gesellschaftlichen Mehrwert produzieren. Diese Leere gestehen jene auch gerne ein, die sie ausführen. Joan ist also schrecklich, weil sie etwas vermittelt, das ihr beliebig aus den Wolken zuzufallen scheint. Eigentlich rechnet sie sich in der firmeninternen Hierarchie dem Bodenpersonal zu — im Gespräch gestikuliert sie die Anführungszeichen. Diese Diskrepanz verursacht ihre Nervosität. So schlussfolgert sie selbstreflexiv an dieser frühen Stelle in der Erzählung, was sich zum Schluss als Pointe herausstellt: „I’m not the main character in my own life story.”
Vordergründig ist diese Geschichte eine Kritik des unbeaufsichtigten Ausverkaufs persönlicher Daten. Durch diesen werden im gegenwärtigen „Überwachungskapitalismus” (Shoshana Zuboff) nicht mehr die Produktivkräfte der Arbeiter*innenklasse ausgebeutet — bzw. geschieht dies nur im Globalen Süden, außerhalb des alltäglichen Wahrnehmungshorizonts. Hierzulande extrahiert man auf Basis der Bequemlichkeit das Verhalten jener Angestellten, deren Gebrauch diverser Bildschirme laufend monitorisiert wird. Dieser ist von außen nicht so ohne weiters von Freizeitgestaltung zu unterscheiden. Maximiert wird die Attraktivität des Angebots eines Streaming-Dienstes durch behavioristische Analyse des Konsumverhaltens. Aus dieser ging hervor, dass die Zuseherschaft sich eher in Inhalten wiederfindet, so wie die negativen Persönlichkeits-Aspekte akzentuiert werden. Die direkte Einspeisung des Alltagslebens als geringschätzende Parodie intensiviert das Nutzer*innen-Engagement — so das Kalkül der Streamberry-Chefin.
Der Ausweg aus dieser Abwärtsspirale in die Mittelmäßigkeit ist groteske Selbsterniedrigung durch Tabu-brechenden Aktionismus. Die eher noch handlungsfähigen Schauspielerinnen möchten ihr Gesicht für solch ein schlechtes Benehmen nicht mehr hergeben. Es bildet sich eine Allianz zwischen dem in der Konsumentinnen-Rolle gefangenen Subjekt und ihrer stellvertretenden Akteurin. Dabei wird auch die politisch einende Gemeinsamkeit benannt: Als Frau wurde nämlich auch Salma Hayek unfair behandelt: „And they said that they were closing the pay gap. Bullshit! They’re paying me one tenth of what they’re paying George Clooney.”
Source-George wiederum ist wohl hochdekorierter und bestens bezahlter Hollywood-Star, und dazu Nestlé-Testimonial für deren Espresso-Kapsel System. Als Gesicht in seriösem Anzug dieser Nobel-Marke repräsentiert er das Verkaufsargument, dass jede*r sein*e eigene*r Barista sein könne. Das Ganze, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen und so die Erscheinung als seriöser Geschäftsmann zu stören. Das mag optisch funktionieren, einwandfrei in hochstilisierten Werbespots; doch der Geschmack eines solchermaßen in idealtypischer Warenform abgekapselten Kaffees straft Lügen. Daher kann Joan als stolze Barista, die selbst die Kontrolle über die Zubereitung übernimmt, sich wieder als Hauptdarstellerin ihres eigenen Lebens fühlen. Sie ist ausgestiegen aus ihrem Bullshit-Job mit Dogshit-Coffee, der sie gegen ihre Mitarbeiter*innen ausgespielt hat.
Höchst plakativ kann sie als Kaffeesiederin alltäglich Sinn stiften. Sie vermittelt in dieser Alltagsromantik nicht innerhalb eines Betriebs obskure Entscheidungen der Geschäftsleitung, sondern ganz öffentlich zwischen zahlreichen, individuellen Entscheidungen der Kundschaft und ihrem Angebot. Die Überlegungen bezüglich der eigenen Kaffeekonsumation eröffnen den Graubereich zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit. Denn die profane Welt wird in dieser Dichotomie zunehmend unklar: Die dazwischen verlaufende Grenze verwischen wir selbst auf den touch screens mittels derer wir in einem universellen Interface unsere Kontakte, E-Mails, Einkäufe, Computerspiele und algorithmisch gesteuerten Unterhaltungsangeboten navigieren. Dann kann es wie in der Black Mirror-Serie auch dazu kommen, dass man sich gerade an der Bar unbedingt die neueste Folge „Joan is awful” anschauen muss. Die seriöse Joan in ihrer Rolle als Barista hingegen taktet mit Getränken den hochfrequenten Wechsel zwischen Geschäftigkeit und Zerstreuung. Wie kommt es, dass sich ausgerechnet im Café die vom Recht entmächtigten Subjekte wieder über den Verkaufstisch auf Augenhöhe begegnen und das eine plausible Erzählung ausmacht?
Räume des eiligen Verweilens
In jüngerer Vergangenheit lässt sich ein Trend in visueller Kultur beobachten: Das Café, das vielleicht eher eine alteuropäische Sehenswürdigkeit war, adaptierte man im US-amerikanischen Raum zu einem „third place” neben Büro und Wohnort. Es gilt auch dort eingeschränkte Konsumationspflicht. Man ist also zum Verweilen eingeladen, wenn man erst einmal sein Heißgetränk bestellt hat. Ikonisch dargestellt wurde dies in der Fernsehserie Friends, deren Cast sich regelmäßig in ihrem Stammcafé Central Perk auf der Couch versammelte.
Das realweltliche Paradigma hierzu liefert Starbucks, ursprünglich Händler von Kolonialwaren mit dem Zusatz „Coffee - Spices - Tea”. Erst Howard Schultz machte es zum Fastfood-Restaurant, einem „Coffeeshop” im Stile einer italienischen Erpressobar; in verkitschter Form mit gepolsterten Sitzlandsschaften. Auch die überdimensionierten Tassengrößen erfordern ein längeres Verweilen im Geschäft. Für den Erfolg in Form steigender Umsätze ist daher der Einwegbecher mit Markenzeichen wichtig, das so ein jede*r vor sich herträgt. Auch Slavoj Zizek verweist gerne darauf, um ideologiekritisch auf die Problematik des politisierten Konsums hinzuweisen.
„What Starbucks enables you is to be a consumerist without any bad conscience because the price for the counter measure for fighting consumerism is already included into the price of a commodity. […] It’s — I think — the ultimate form of consumerism.”
Diese ultimative Form des Konsumerismus setzt bei einem Produkt an, das wie kein Anderes auf globalen Ausbeutungsverhältnissen beruht. Kaffee rangiert neben Rohöl und Erdgas unter den meist gehandelten Rohstoffen, wobei wir diesen im Gegenzug zu fossilen Energiequellen tatsächlich inkorporieren. Wie einst auch Sklaven wurde er aus Afrika nach Amerika gebracht, wo die Bodenressourcen in Form von Kaffeebohnen wieder nach Europa exportiert wurden. Bis heute ist der Preisdruck auf Bauern enorm; daran ändert sich auch nichts, wenn wir mehr für die einzelne Tasse zahlen.
In Kombination mit anderen Agrarprodukten — Gewürzen, Kakao, Tee, vor allem aber Rohrzucker — ist Kaffee nicht nur wesentlicher Bestandteil der Genese des globalisierten Wirtschafts- und Warenverkehrs, sondern krempelt eben auch auf der anderen Seite der Wertschöpfung traditionelle Arbeitsweisen um: Mit der Heißgetränke-Revolution bezeichnet man die Ergänzung der europäischen Ernährung (inklusive auch tagsüber viel getrunkenen Alkohols) durch ernüchternde Tee- und Kaffee-Pausen. Bitterkeit wurde mit Zucker übertüncht, was sie auch zu einem wichtigen Energielieferanten machte. Übertriebener Einsatz von Süßungsmitteln ist auch heute noch Teil des Geschäftsmodells von Starbucks. In diesem holt man sich seine Bestellung von der Bar selbst, um sie für den eigentlichen Genuss an der Selbstbedienungsstation vorzubereiten. Sie führten zunächst auch Espressomaschinen in den USA ein und damit die entsprechend geschulten Barista. Im Barbetrieb lässt sich das italienische Modell des café al banco noch erahnen, der gesetzlich gedeckelt ist. Der Espresso um rund einen Euro gehört zum Urlaubsgefühl an der Adria dazu. Man fühlt sich wie jemand, der von seinem Menschenrecht auf einen akzeptablen Kaffee zum Selbstkostenpreis gebrauch macht — dafür aber eben auch gleich wieder den Platz an der Theke räumt, sobald der Fingerhut gestürzt worden ist.
Klassischerweise wurde in Amerika Filterkaffee ausgeschenkt. Für diesen hat sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts landesweit der bodenlose Tassen-Tarif eingebürgert. Man bestellt einen Kaffee zum Frühstück, der von den Kellner*innen laufend kostenlos aufgefüllt wird. Mit Kaffee kauft man sich immer auch Zeit zu verweilen. Dies mag durchaus in der Natur der Sache liegen: denn als Wirt*in kann man sich drauf verlassen, dass der Genuss von selbst ein Ende nimmt. Im Gegensatz zu Alkohol etwa macht die übermäßige Einnahme von Koffein wenig Spaß. Daher bleibt es meist bei einigen wenigen Tassen. In Wien ist das keineswegs was Neues. Die Folklore rund um literarische Berühmtheiten in wichtigen Café-Etablissements macht diese Häuser zu touristischen Sehenswürdigkeiten als Schaffensstätten eben dieser Künstler um die Jahrhundertwende. Zudem ist es auch noch in vielen Traditionshäusern, die noch nicht von Touristen überrannt sind, gelebte Praxis.
Wenn also je nach ökonomischer Großwetterlage Kompromisse gemacht werden müssen, so gehört zur Atmosphäre des Cafés auch ein zumindest abgemilderter Konsumzwang. Es gibt eine kulturhistorische Abstammungslinie vom Literatencafé der Wiener Innenstadt zur Konzeption des amerikanischen Einkaufszentrums — der suburbian mall. Denn zu den europäischen Immigranten, für die das Fehlen solcher Orte gleich auffällt, die weder Wohnraum noch Arbeitsstätte sind, zählt unter anderem Victor Gruen, geborener Grünbaum — auch Proponent der Kärntnerstraße als Fußgängerzone.
„He finds that: ‚Los Angeles we are hesitant to leave our sheltered home in order to visit friends or to participate in cultural or entertainment events because every such outing involves a major investment of time and nervous strain in driving long distances.’ But, he says, the European experience is much different: ‚In Vienna, we are persuaded to go out often because we are within easy walking distance of two concert halls, the opera, a number of theatres, and a variety of restaurants, cafes, shops, seeing old friends does not have to be a prearranged affair as in Los Angeles and more often than not, one bumps into them on the street or in a cafe.’ The Gruens have a hundred times more residential space in America but give the impression that they don't enjoy it half as much as their little corner of Vienna.
Das Café ist daher im hier bedachten Globalen Norden wichtige Kulisse des öffentlichen Raums und teilt sich mit den Verkehrsflächen eine Schnittmenge: die Flaneur*innen, die einen losen Austausch pflegen; die zwar auf den funktionalen Wegen zugegen sind, doch diese zur Erholung und bürgerlicher Repräsentation nutzen. Barista sind Randerscheinungen in diesen urbanen Vexierbildern von Müßiggang und Produktivität. Sie insistieren dialektisch unsere Arbeitsweisen durch die Pausen, die sie organisieren.
Unabhängig von der jeweiligen Ausprägung im Detail, ist Kaffeesieden eine technisch avancierte Form der Gastfreundschaft, die eine bestimmte Kulturform hervorbringt, die man mit der Aufklärung in Verbindung bringt. Sie ist daher in vollem Umfang als Kulturtechnik zu bezeichnen: Ähnlich wie in der Seefahrt, die Schiffe hervorbringt, in denen wiederum sich ein (abzuwehrender) Blick des gefahrvollen Ozeans und das (erotisierte) Selbstbild eines Seefahrers kreuzen, sind Barista für Bürger*innen zugleich der Schrecken einer niederen Tätigkeit von der man sich emanzipiert wähnt und das idealisierte Bild eines selbstbewussten Handwerks, in der eben diese Emanzipation gründet.
Hybride gastronomische Funktion der Champions
Auch wenn zahlreiche Facetten vom einführenden Beispiel Joan is awful verschiedene Ungerechtigkeiten der Arbeitswelt tangierte, interessierte weniger, ob die satirische Überspitzung des zeitgenössischen Konsumismus ästhetisch gelingt: dieses per künstlicher Intelligenz vervielfältigte mise-en-abyme wies auf die nunmehr unmögliche Unterscheidung von Produktion und Konsumption hin — noch bevor ChatGPT in der öffentlichen Wahrnehmung aufschlug und mitunter Autorenproteste auslöste. Weniger zentral taucht in dieser zeitgeistigen Dramaturgie Kaffee als Erinnerung an das Reale selbst auf, inmitten einer medientechnisch überformten Welt. Die übersteigerte Multiplikation des Bildes ist gerahmt von vollständig funktionalisierter Öffentlichkeit, in deren sozialräumlicher Verortung schon die die Frage nach menschlicher Zweckbestimmung auftaucht.
Barista sind uns heute vertraut als ein Stereotyp, der zusammenfällt mit dem Klischee vom Hipster der 10er Jahre. Eine Figur, die sich in den gentrifizierten Vierteln mit der Boheme gemein machte als Barbier oder Barista. Ihr kontrollierter Stilbruch — auffällige Brillen, Rauschebart oder Undercut, dazu Tätowierungen und Piercings — wird als Rückratslosigkeit gegenüber dem wachsenden Distinktionsdruck zu ihren Ungunsten ausgelegt; man akzeptiert aber das angeblich blasierte Auftreten, denn die Barista sind ein relativ neues Phänomen, das sich abseits der bewährten Arbeitsteilung in Küche und Service eine Nische findet. In Amerika ist diese Arbeitsgattung, vielleicht gerade weil sie auf keine eigene Tradition zurückgreifen kann, gerade dabei um eine Gewerkschaft zu kämpfen. Das passt zum Stereotyp einer unterbezahlten, wie überqualifizierten Hilfskraft, die sich ihr geisteswissenschaftliches Studium finanziert.
Für gastronomisch Geschulte sind sie ein Hybrid, das nicht zuzuordnen ist: Gemäß klassischer französischer Lehre gibt es die Küche, die streng hierarchisch organisiert ist — nach Vorbild der Armee. In der Produktionsstätte folgt alles dem traditionellen Plan, der üppig-aristokratische Speisegewohnheiten servierfertig bereitstellt. Die Kellnerschaft sorgt dann für ein gediegenes Setting, in welchem diese vornehmen Genüsse, die ja in verschwenderischen Exzessen wurzeln, in einzelnen Portionen leichter verdaulich an das á la carte bestellende Individuum gebracht werden. In Kontext des europäischen Erbadels waren auch die Kaffeefachkräfte mitunter Sklaven oder Diener, welche die Heißgetränke in orientalischer Tracht auftrugen. Die Verfahren der Kaffeezubereitung werden in kaskadenförmigen Aneignungsbewegungen über Klassengrenzen hinweg tradiert. Kaffee ist auch technisch ein besonderes Produkt, das kein Sud wie Tee ist und ebensowenig der Saft einer Frucht. Der Rohstoff sind Kerne einer Steinfrucht, die es zu rösten, zu mahlen und zu sieden gilt. Wesentliche Zubereitungsschritte, die dem Personal überlassen werden, das selbst in Kontakt mit Kunden steht. Diejenigen, die den Kaffee herstellen und jene, die ihn in kulturell formalisiertem Setting zu sich nehmen zu pflegen sind nicht nur über ein globales, sondern auch ein unmittelbar persönliches Beziehungsgeflecht verstrickt.
Erst kürzlich erwachte das tiefere Interesse an Kaffee als einem agrikulturellem Produkt, das an geschmacklicher, chemischer und produktionstechnischer Komplexität anderen vornehmen Genüssen von Wein, Whiskey oder Tee um nichts nachsteht. Man schmeckt in ihm ebenso Unterschiede hinsichtlich genetischer Diversität und Terroir. Durch handwerkliche Sorgfalt lassen sich besondere Qualitäten erzielen, die aus dem grundsoliden, erwartungsgemäßen Aufwachgeschmack ein raffiniertes, überraschendes Trinkerlebnis machen. Auch Kaffee lässt sich nun á la carte bestellen: Es braucht also eine gewisse Expertise, wenn man nicht mehr einen Anzahl uniformer Kaffeeeinheiten bestellt, um sie selbst individuell mit Milch und Zucker zu modifizieren. Wer noch nicht Bescheid weiß, welches Herkunftsland, welche Aufbereitungsmethode oder Zubereitungsweise man bevorzugt, fühlt sich in seinem Wunsch nach Koffeinzufuhr in gewohnter Weise nicht Ernst genommen und gegängelt.
René Redzepi, einst Chefkoch des zum weltbesten Restaurant gekürten NOMA in Kopenhagen, projektierte gemeinsam mit international anerkannten norwegischen Kaffee-Champion von 2004 Tim Wendelboe einen seinem Haus angemessenen Kaffee. Er wunderte sich öffentlich, dass er sich über alle Essens-Konventionen hinwegsetzen konnte — d.h. auch lebende Ameisen servieren, die Gäste einander vom Rücken aßen. Ein anspruchsvolles Kaffee-Angebot provozierte aber die Kritiker. Sie interessierten sich nicht für wortreiche Geschmacksnotizen, sondern dafür, woher sie Milch und Zucker bekommen. Dieser höchst persönliche Moment der Finalisierung des Kaffeegetränks konnte aber nur schwer dem Gutdünken der jeweiligen Trinker*innen überlassen bleiben: Die Vision der Profis kann dann nicht mehr über das Geschmackserlebnis kommuniziert werden.
Umso wichtiger ist die Moderation in den Barista World Championships, die seit 2000 abgehalten werden. In 15 Minuten werden zwölf Getränke an vier Juror*innen serviert, welche diese bewerten. Für die Weltöffentlichkeit wird eine kleine Showeinlage konzipiert, mit der jeweils ein Espresso, ein Milchmischgetränk und ein selbst gestalteter alkoholfreier Cocktail („signature drink”) serviert werden. Jeder Handgriff der Zubereitung wird mit Argusaugen überwacht, das einem strengen Protokoll folgt, in das man bemüht ist zusätzliche Innovationen einzubauen. Die Barista-Championships sind keine Sportveranstaltungen zu Ehren des Geschicks der Teilnehmer. Im Zuge des Wetteiferns entstehen Routinen, die von der Fachwelt nachgemacht werden, sofern sie sich bewähren. Zusätzlich zum disziplinierten Abarbeiten des Protokolls, wird das sensorische Erlebnis beschrieben, technische Verfeinerungen und Besonderheiten des Produkts kontextualisiert.
Ein Barista-Meister funktioniert nicht am Besten als ein Automat, der einen Wunsch schnell und präzise in Getränke umsetzt und uns so Arbeit erspart. Baristas müssen laufend das ökonomische Wissen vermitteln: ihre Verarbeitung übersetzt ein globales Verhältnis in einen Moment des Trinkens; Meisterschaft artikuliert sich darüber hinaus, indem dieser Prozess wiederum dem Subjekt als sein eigener vermittelt wird, das sich vom Barista handwerklich stellvertreten sieht. Es überrascht daher nicht, dass vor wenigen Wochen 2024 in Südkorea Mikael Jasin aus Indonesien triumphierte, als er prototypisch seinen Kaffee als Bewusstwerdung vorführte, mit der er sich selbst aus dem burn-out rettete. Achtsamkeits-Praktiken halfen ihm dabei, so dass er seine drei Gänge analog zu Mind, Body und Soul vorstellte und jeweils die Jury zu verschiedenen Stationen führte. So ostentativ, wie nur irgendwie möglich, waren die Richter in den Produktionsprozess analog als Bewusstwerdung inszeniert körperlich eingebunden, so dass in der Wahrnehmung für nicht anderes Raum blieb, außer für einige wenige Schluck Kaffee selbst. So wurde die Illusion für glaubwürdig befunden, dass man an der Produktion des eigenen Konsums von Anfang an — die in Verarbeitung „from seed to cup” — beteiligt sein könne.
Ressourcen
- David Graeber, David Wengrow: Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit, Stuttgart 2022.
- Barista, Dokumentarfilm 6.11.2015, 1h43m.
- David Graeber: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit, übers. v. Sebastian Vogel, Stuttgart 2018.
- Bernhard Siegert, Geoffrey Winthrop-Young: Cultural Techniques: Grids, Filters, Doors, and Other Articulations of the Real, New York 2015 (Meaning Systems, Volume 22).
- Ed Cumming: How Nespresso’s Coffee Revolution Got Ground Down, 14.7.2020, online unter https://www.theguardian.com/food/2020/jul/14/nespresso-coffee-capsule-pods-branding-clooney-nestle-recycling-environment, gesehen am 2.8.2024.
- Ashley Rodriguez: Is Asking Consumers to Spend More on Coffee Just Trickle-Down Economics?, Eintrag im Blog BOSS BARISTA, Substack newsletter, dort datiert 20.6.2024, https://bossbarista.substack.com/p/is-asking-consumers-to-spend-more?publication\_id=10388&utm\_medium=email&utm\_campaign=email-share&isFreemail=true&triedRedirect=true, gesehen am 2.8.2024.
- Joan Is Awful, 15.6.2023, 58m.
- Slavoj Zizek on the Capitalist Gratification of consuming Starbucks Coffee, dort datiert 19.8.2014, https://www.youtube.com/watch?v=P18UK5IMRDI, gesehen am 2.8.2024.
- Sidney W. Mintz: Sweetness and Power: The Place of Sugar in Modern History, New York 1986.
- Shoshana; Zuboff: The Age of Surveillance Capitalism, o. O. 15.1.2019.
- Ray Oldenburg: The great good place: cafés, coffee shops, bookstores, bars, hair salons, and other hangouts at the heart of a community, New York : [Berkeley, Calif.] 1999.
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