Die Weiße Magie des Schwarzen Auges

Die Weiße Magie des Schwarzen Auges
Cover Art by Uğurcan Yüce

Zur Konzeption des ludischen Lesens durch das Pen’n’Paper Rollenspiel

Ein Entwurf für PAIDIA.

Abstract

Dieser Artikel spürt dem P&P-Rollenspiel mediengenealogisch nach als einer Erzählpraxis, die im Kontext des literarischen Fantasy-Genres, digitalen Technologien und Brettspiel-Vertriebs entsteht und in redaktioneller Steuerung einen common playground schafft, der asynchron von verschiedenen Spielgruppen bereist wird. Die Spielerschaft von Das Schwarze Auge blickt selbst wiederum in Herausgabe einer Schachtel auf seine 40-jährige Geschichte zurück. Sie eignet sich vortrefflich, um zu zeigen, wie der Aushandlungsprozess über ein authentisches Spielgefühl formatiert wird. In den Blick gerät dadurch eine Lektüre, die ludisches Lesen genannt werden könnte, das im kulturtechnischen Übergang vom Blättern zum Nachschlagen genuin spielerische Modi der Rezeption hervorbringt.

Keywords

Kulturtechnikforschung, Rollenspiel, Anschaulichkeit, Bürokratie, Ludologie

Pen’n’Paper vs. Bytes’n’Pixel

In den gängigen Fortschrittsfabeln, die von einer kontinuierlichen Verbesserung der Rechenkapazitäten und damit der Visualisierungsleistung von Computerspielen ausgehen, ist das Tischrollenspiel gewissermaßen ein Skelett: auf ersten Blick ein Kuriosum okkulter Praktiken, beheimatet in Kellern und Garagen, wo Nerds Bubenträumen mit ihren bescheidenen Mitteln nachhängen; zugleich ein kompliziertes und knochentrockenes Grundgerüst einer virtuellen Welt-Simulation. Mit aufwändigem Graphikdesign dekoriert ist es leichter verdaulich und so einer breiteren Spielerschaft zugänglich. Es bildet immer noch die Grundlage vieler erfolgreicher Computerspiel-Titel: Baldur’s Gate 3[1] etwa bedient sich der 5. Regeledition von Dungeons & Dragons[2] (D&D), das ohne mitgelieferter Spielwelt auch technisch als d20-System[3] bezeichnet wird, wegen des prominent eingesetzten zwanzigseitigen Würfels. Auch die ersten beiden Titel griffen auf frühere Versionen des allerersten papierbasierten Rollenspiels zurück; bzw. dessen Regel-Grundgerüst: eine narrative, low-tech Spiel-Engine, die mit einer Graphik-Engine zu einem Videospiel gekoppelt wurde.

Frühere Baldur’s Gate-Spiele waren noch vor dem World of Warcraft-Hype beliebte role playing game (RPG)-Adaptionen.[4] Im Gegensatz zu den früheren Spielen wird heute das Werfen von Würfeln visualisiert (Abb. 1).[5] Das Computerprogramm simuliert so eine Szene des Geschehens am Spieltisch und vertritt ein grundsätzlich anderes Konzept von Immersion: Spieler*innen übernehmen so nicht Heldenrollen, durch deren Haut sie in Kontakt mit der fingierten Welt stehen; vielmehr sind sie Teilnehmer*innen einer Spielrunde, die strategische Entscheidungen für diesen Charakter trifft und zugleich beobachten, wie die Umgebung auf diese reagiert.

Der Würfelwurf ist pragmatisch betrachtet ein recht handlicher Zufallsgenerator, der die Risiken des heldenhaften Handelns kalkulierbar macht und damit die kollektive Erzählung plausibilisiert. Wie ein Türstopper hält er kausale Folgerungen offen und garantiert der Spielrunde das Gefühl von Kontingenz. Das konnte ohne weiters in Computerspielen verborgen werden: Das Programm berechnete die regeltechnischen Auswirkungen im Hintergrund, während visuelle Effekte diese veranschaulichen. Es zählten die ausgegebenen Bilder des Geschehens in der Ansicht des Spiels: ein Feuerball explodiert von Zauberhand und setzt Gegner in Brand, während vielleicht unklar bleibt, wieviel Schadenspunkte dieser Zug faktisch verursachte — was am Tisch ausgewürfelt und entsprechend notiert worden wäre. Die Regelkundigen konnten die Ergebnisse der automatisch ablaufenden Randomisierungen in einem Protokoll zwar nachlesen, doch gab es noch keine Inszenierung dieser zahlreichen Momente einer Überschreitung des Rubikons, die das laufende Würfeln am Spieltisch produziert.[6]

Nun im aktuellen Baldur’s Gate der 2020er-Jahre lösen Spieler*innen den Wurf des Ikosaeders selbst aus, beobachten die rollende Bewegung eines 3D-Modells und die Verrechnung anfallender Modifikationen, so dass das Würfeln als allegorisches Moment schicksalshafter Entscheidung nochmals vor Augen geführt ist. Einerseits bildet dies eine historische Entwicklung ab: dem ursprünglichen Spiel wird vielleicht nun mehr Anerkennung gezollt, weil viele Computerspieler*innen den Reiz des visuell ärmeren Tischrollenspiels über den Umweg der Bildschirme nachspüren. Andererseits ist geradezu klassisch die Theorie der Remediation vorgeführt.[7] Dieser zu Folge schaffen neuere Medien nicht einfach nur ältere Papierspiele ab und ersetzen sie, sondern die mediale Darstellung pendelt laufend zwischen Hypermedialität und Unmittelbarkeit. Am Ende stehen ästhetische Lösungen, die ostentativ Elemente des papiernen Vorgängers einarbeitet. Diese mögen verfremdende Effekte mit sich bringen: Tabellen, Zahlenwerte, Inventarlisten sind ja nicht übliche Bestandteile einer epischen Erzählung. Dabei arbeiten sie dialektisch mit an einer Vorstellung unmittelbarerer — und damit überlegener — visueller Vermittlung durch das Videospiel-Programm.

Spielstill aus einem Let's Play-video.

Im Folgenden soll daher das breite Genre RPG mitsamt der zugehörigen Fantasy-Gattung mediengenealogisch historisiert werden. Das zielt auf eine Gegenwartskritik ab, wobei es „weniger um die inneren Gesetzmäßigkeiten der Einzelmedien und ihrer jeweiligen Kulturen” geht, sondern um die Frage „nach der Digitalisierung unserer Kultur, indem sie Medien nicht bloß als rein technische Apparate, sondern als Schauplatz für individuelle und soziale Praxen, für Lebensweisen, kulturelle Muster, Wissen, Macht und Herrschaft betrachtet.”[8] Im Bezug auf die Entwicklung des Rollenspiels bedeutet dies den Prozess der Ludifizierung eines literarischen Genres zu verstehen. Und zwar nicht nur anhand der gängigen Produkte, die sich am Markt durchgesetzt haben, sondern eben auch anhand apokrypher Beispiele, wie es das deutsche Das Schwarze Auge ist. In seiner Abgrenzung von D&D treten kulturelle Differenzen im Bezug auf diese untersuchten Wahrheitsspiele besonders deutlich zu Tage. Das lässt zum Schluss noch eine allgemeine Reflexion zu, aus der sich eine ludische Art zu Lesen konzipieren lässt. Diese — typisch für unsere digitale Gegenwart — liest nicht eine „große Erzählung” von Anfang bis Ende, sondern permutiert laufend die Konfigurationen aus der das Geschehen sich ergibt. Ludisches Lesen operiert nicht primär durch Blättern, sondern durch Nachschlagen.

Weiße Magie: Schriftbildlichkeit der Fantasy-Gattung

Ebensowenig wie in Büros papierlos gearbeitet wird und wir alle unsere Bücherregale zum Sperrmüll gebracht haben, weil die Bibliotheken in E-Book Datenbanken aufgegangen wären, ist Papier allgegenwärtig und birgt — so darf nach diesen einleitenden Betrachtungen vermuten — als Spielmaterial einen besonderen Reiz. Lothar Müller zu folge ist seine Epoche noch nicht zu Ende, denn es wirkt still im Gegensatz zu lauten medientechnologischen Revolutionen und doch sind sowohl Buchdruck und unser digitaler Alltag auf Papier angewiesen.[9] Weiße Magie ist im Gegensatz zur Schwarzen Kunst mit weniger medienhistorischer Aufmerksamkeit bedacht. Dabei existieren hochangesehene Kulturen des Spiels, die man papierbasiert nennen könnte: Scherenschnitte und Collagen, Origami und Papierflieger, „Schifferl versenken” und eben auch das Charakterdatenblatt eines pen’n’paper-Rollenspiels.

Hierbei wird schwierig eine eindeutige Grenze zwischen dem Trägermaterial und den darauf angebrachten Zeichen zu ziehen. Sybille Krämer bringt dieses Phänomen auf den Begriff der Schriftbildlichkeit.[10] Texte bilden auf der weißen Hintergrundfläche des Papiers selbst ein Bild; Texturen, die im armseligsten Fall als „Bleiwüsten” bezeichnet werden können, weil deren Lektüre als Entbehrung anmutet. Philipp Felsch entwickelt so auf die Materialität der hergestellten Bücher schielend entlang der Geschichte des Merve-Verlags eine Gattungsgeschichte der Theorie. Die billige Produktion im Taschenbuchformat unterstützt die weitreichende Verbreitung der so artikulierten Ideen über gesellschaftliche Transformationen. Selbst gänzlich unanschaulich entsteht in zweiter Ordnung eine Anschaulichkeit der theoretischen Praxis.[11]

Das korrigiert die vorschnell konstruierte Opposition von kalten Bildmedien zur heißen alphabetischen Schrift; von kalten Steintafeln, die Zeiten überdauern, zum leichten und deswegen heißen Papier, das schneller übermittelt wird und so Einflussbereiche ausdehnt.[12] Im Buch entsteht ein Artefakt das auch in kühleren Kulturen monumental gelesen werden kann; das nicht nur typographisch informierten Text beinhaltet, sondern wesentlich durch den gebundenen Stapel Papiers voller Schriftbilder bestimmt ist. Es repräsentiert ein Wissen, dass noch gar nicht sinnerfassend gelesen werden muss, um z.B. in einer bibliothekarisch organisierten Regalordnung wirksam zu werden. Um im Bild McLuhans zu bleiben, könnte man konstatieren, dass einerseits abkühlende Bibliotheks-Architekturen entstehen, in denen unübersichtliche Sammlungen sortiert werden und so augenfällige Wissensordnungen erschaffen. Zugleich bringen Layout und äußerliche Buchgestaltung innerhalb des gebundenen Textkonvoluts typographisch erhitzte Schrift auf Körpertemperatur. Wenn also das Radio heiß läuft, während das Telefon kalt bleibt, weil wir tätig in die Kommunikation eingebunden sind, so zählt das Telefonbuch, obwohl selbst ein typographisches und demzufolge heißes Medium zu einer abkühlendes Kulturpraxis. Das Nachschlagen ist dem einer erzählenden Sequenzierung folgendem Blättern in einem Buch diametral gegenüber gesetzt. In der Zeit des kalten Krieges schreibt McLuhan weiters: „Gerade das Spiel kühlt die brennend heißen Probleme des gegenwärtigen Lebens ab, indem sie diese spielerisch nachahmt.”[13] Konkret spricht er die Olympischen Spiele an, in denen der antagonistische Kontext, der Kalte Krieg von Osten und Westen sich agonal widerspiegelt. Wie lässt sich spielwissenschaftlich diese mediale Beziehung verallgemeinern?

David Graeber vollzieht in Utopia of Rules eine andere Gegenüberstellung: die von frühen urbanen Gesellschaften, in denen Bürokratie entsteht (was an eine Kultur heißer Medien erinnert) und jenen heroischen Kulturen, die an den naturbelassenen Rändern expansiver Imperien entstehen (und dementsprechend kalt anmuten). Deren Leben ist nicht dokumentiert, mangels eines konsistenten Zeichensystems, besteht dafür aber in Mythologien bis in unsere Tage fort. „I think part of the answer is that heroic societies are, effectively, social orders designed to generate stories.“[14] Er kennzeichnet Fantasy-Literatur („Sword & Sorcery”) grob als Erbe der Jahrtausende überdauernden Praxis bürokratischer Kulturen in Märchenwelten die Unwägbarkeiten des Lebens außerhalb des eigenen verwaltbaren Erfahrungshorizonts zu reflektieren.

„These books are not just appealing because they create endless daydream material for the inhabitants of bureaucratic societies. Above all, they appeal because they continue to provide a systematic negation of everything bureaucracy stands for. Just as Medieval clerics and magicians liked to fantasize about a radiant celestial administrative system, so do we, now, fantasize about the adventures of Medieval clerics and mages, existing in a world in which every aspect of bureaucratic existence has been carefully stripped away.“[15]

Dies stimmt überein mit dem literaturgeschichtlichen Forschungsstand über Fantasy, den Christine Lötscher zusammenfasst. Sie hält einem vorschnellen Aburteilen dieser Gattung als infantil, chauvinistisch und reaktionär entgegen, dass dieses Genre sich über den Tolkien’schen Begriff der Mythopoesie definieren lässt. Das meint „ein spielerisches und poetisches Ausloten der Möglichkeiten mythischer und fantastischer Traditionen im Roman. Dieser Impetus ist genauso spekulativ wie jener der zukunftsgerichteten Science Fiction, auch wenn keine Zukunftsvisionen entworfen werden.”[16] Diesem multiperspektivischem Erzählen und Schreiben werden die popularisierenden Filme und Serien meist nicht gerecht, wenn sie das Hauen und Stechen mit übermäßig viel Zeit würdigen — sie nennt bekannte Beispiele: Game of Thrones, Troja und die Herr der Ringe-Trilogie.

„Peter Jackson streicht die wichtigste Figur […] aus seinem Drehbuch: den rätselhaften, mit dem Wald verflochtenen, ständig singenden und erzählenden Tom Bombadil. [… Er] verkörpert die Idee einer Form des Erzählens, eines spekulativen Fabulierens, bei der alle mitmachen dürfen – die Hobbits geraten in seinem Haus nämlich auch in einen fast psychedelischen Erzählflow –, das unter den vielfältigsten Wesen Gemeinschaft stiftet, sie füreinander sorgen und sie verstehen lässt, dass alles was lebt, miteinander verflochten ist.”

Diese Verflechtung hat Michael Ende in seinen Buch Die Unendliche Geschichte im Schriftbild augenfällig gemacht: denn es ist zweifarbig. Lesend erfährt man anfangs, dass der Protagonist, ein Schulkind namens Bastian an ein Buch kommt, das exakt so aussieht, wie das Buch in dem man selbst liest und auch denselben Titel trägt.[17] Alles was dort, in Phantásien, einem Land voller zauberhafter Kreaturen und Möglichkeiten, geschieht, ist in blauer Tinte gedruckt; die Absätze, die von Bastians Lektüre des selben Buchs berichten, sind rot. Hier erhält das Spiel miteinander verwobener Geschichten rein visuellen Ausdruck im Schriftbild.

Reglementierung: Spiele der Bürokratie

Zur gleichen Zeit wie dieser Erfolgsroman, im Jahr 1974 erschien D&D. Und auch dieses bietet eine Reihe visueller Stützen, um noch viel technischer die Erzählmaschinerie in Gang zu setzen: Formulare, Protokolle, Tabellen, gerasterte Pläne, Dokumente. Graeber beschreibt diese paradoxe Bewegung der Bürokratisierung des antibürokratischen Fantasy-Genres wie folgt.

„In many ways [D&D is] actually quite anarchistic, since unlike classic war games where one commands armies, we have what anarchists would call an “affinity group,” a band of individuals cooperating with a common purpose (a quest, or simply the desire to accumulate treasure and experience), with complementary abilities (fighter, cleric, magic-user, thief …), but no explicit chain of command. So the social relations are the very opposite of impersonal bureaucratic hierarchies. However, in another sense, D&D represents the ultimate bureaucratization of antibureaucratic fantasy. There are catalogs for everything: types of monsters […] human abilities[…]; lists of spells[…]; types of gods or demons; […] different sorts of armor and weapons; even ‚moral character’[…]. The books are distantly evocative of Medieval bestiaries and grimoires. But they are largely composed of statistics. All important qualities can be reduced to number. […] The numbers are in a sense a platform for crazy feats of the imagination, themselves a kind of poetic technology.“[18]

Die bürokratische Verwaltung eines Antibürokratismus in Form des Fantasy-Genres werde vom Computer gewissermaßen vollendet. Diese Ludifizierung ist letztlich eine Beschränkung des erzählenden Ausdrucks und damit eine graphische Versiegelung des mythopoetischen Nährbodens. Rollenspielpraxis ist eng verwoben mit den alternativen Gesellschaftsentwürfen, die wir kollektiv zu machen im Stande sind. Ähnlich wie das Lesen in Büchern Individuen isoliert und der Gebrauch von Internettechnologien die Konnektivität steigert, produzieren Tischrollenspiele kleine, separierte Spielgemeinschaften. Massively Multiplayer Online Role-Playing Games wirken dafür expansiv und bilden communities weit über physische Distanzen und Grenzen hinaus; dabei adressieren sie jedoch reziprok — d.h. wie ein Buch die darin Lesenden — über das Computerinterface die Spieler*innen vereinzelt. Welche kollektiven Umgangsformen mit Texten und Erzählungen werden von Papierrollenspielen nahe gelegt, die dann das Design von Videospielen vorbereiten?

Doch bevor wir zu unserem Fallbeispiel voranschreiten, zuerst noch eine theoretische Marginalie, die Graebers Figur des Tischrollenspiels als Formalisierung antibürokratischen Fantasygenres nötig macht. Vermissen lässt er eine kritische, spielwissenschaftliche Analyse dieses von ihm als relevant markierten Sachverhalts, den er als Bürokratisierung beschreibt. Stattdessen ließe sich der Begriff der Ludifizierung in Stellung bringen: Gemäß Roger Caillois gibt es einen kontinuierlichen Übergang vom beliebigen Kinderspiel („paidia”) hin zum regelbasierten Spiel („ludus”).[19] Graeber aber setzt diese Prozesse auch prompt gleich: „Games, then, are a kind of utopia of rules.“[20] Seine — im Vergleich zu Caillois — deutlich weniger differenzierte Kritik an Johan Huizingas Homo Ludens beschränkt sich auf eine Fußnote und muss hier nicht weiter verkürzt werden, um sie wiederzugeben: Er konstatiert schlicht, dass diese kulturanthropologische Theorie nur „games” betrifft, nicht aber „play”. Dabei ist Huizingas etymologische Auseinandersetzung mit genau diesem Spannungsfeld sehr umfassend und differenziert. Er argumentiert für die terminologische Versammlung augenscheinlich disparater Spielformen — so etwa auch play und game in einem Wort wie Spiel — als aufschlussreiche Abstraktionsleistung:

„Die Abstraktion eines Allgemeinbegriffs Spiel ist in der einen Kultur früher und vollständiger vollzogen worden als in der anderen, und dies hat zur Folge gehabt, daß es hochentwickelte Sprachen gibt, die für die verschiedenen Formen des Spiels ganz verschiedene Wörter beibehalten haben, und daß diese Vielheit der Begriffsbezeichnungen der Zusammenfassung aller Formen von Spiel in einem einzigen Begriffswort im Wege stand. Dieser Fall läßt sich von weitem mit der bekannten Tatsache vergleichen, daß sogenannte primitive Sprachen zuweilen wohl Wörter für die verschiedenen Arten einer Gattung haben, aber für die Gattung im allgemeinen keine, zwar Wörter für Hecht und Aal, aber keins für Fisch.”[21]

Graeber hält daher Hechte und Aale strikt auseinander und sieht so in „play” etwas subversives, das per „game” unter Kontrolle gebracht wird: ein anarchisches, fantastisches Erzählen, das von einem verwaltenden Kalkül beschränkt wird. Gemäß Huizinga ist aber Spiel eine allgemeinere Gattung, die produktiv ist, gerade weil sie mehrere Aspekte der Kulturleistung in einem Begriff fassen kann. Daran anschließend kann man nun technischer nachfragen: Wie ist das mythopoetische Spiel der Fantasy-Schriftsteller*innen mit der bürokratischen Praxis der Rollenspieler*innen verschalten? Durch welche visuellen Schnittstellen wird das eine in das andere überführt und kollektiv prozessiert?

Das Schwarze Auge: Meisterhafte Verwaltung von Wissen

Die Kaiser-Retro Box erschien 2018 und heißt so, weil sie einerseits der Anfangszeit von Das Schwarze Auge erinnert, das zum ersten Mal 1984 beim Schmidt-Spiele Verlag in Kooperation mit Droemer-Knaur erschien — damals noch unter dem weitaus technischeren Namen Abenteuer-Basis-Spiel. So wie die Spielerschaft mit dem fiktiven Kontinent Aventurien vertraut gemacht wird, der in Erweiterungssets zu bestimmten Regionen immer detailreicher ausgearbeitet wird, führt dieses pen’n’paper-Rollenspiel auch eine eigene Zeitrechnung ein. Diese beginnt die Jahre parallel zu irdischen Jahresläufen die Regierungszeit des amtierenden Kaiser Hals zu zählen, dessen Jahr 1 zusammenfällt mit dem Erscheinen der ersten Ausgabe des Aventurischen Boten: Ein Periodikum für die Spielgemeinschaft, das regelmäßig Stoff für die Tischrunden publizierte in Form von Hintergründen über die Welt und Regelergänzungen. Dieser folgt in der Chronologie auf die Regentschaft Kaiser Retos (sic!), womit sich der Scherz erläutert, den man sich mit dem Titel der Neuauflage erlaubt hat.

Die DSA-Spielerschaft kann also auf eine mittlerweile 40-jährige Geschichte zurückblicken und dabei den Retro-Charme einer Anfangszeit beschwören: Mittlerweile spielt man in der 5. Regeledition und auch in Aventurien wurden Grenzen neu gezogen, innerhalb derer Nicht-Spielercharaktere ein fiktives Dasein fristen, um den Kollektiven, die unabhängig voneinander Geschichten (nach-)erzählen, eine Rahmenhandlung zu geben. Auch wurden motivgeschichtliche Analysen mit akademischen Repertoire vorgelegt.[22] Nicht nur Enthusiasten, die zeitweise mit all den Elfen, Zwerge, Orks, Drachen und Schwarzmagier diese Fantasy-Spielwelt mit narrativen Mitteln bevölkern, sollten sich für diesen geschichtlichen Wandel interessieren. Denn man kann anhand der Veränderungen, die sich in den Bedingungen und Möglichkeiten der Vermarktung eines solchen Spiels abzeichnen, sehr viel mehr über die digitale Gegenwart erfahren, als die emphatische Romantisierung eines unmittelbaren Geschichtenerzählens vis-á-vis als Gegenentwurf zu Computerspielen vermuten lässt.[23]

Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs und Ulrich Kiesow, hatten anfänglich nicht den Anspruch ein eigenständiges Werk zu schaffen. Sie bekamen nur nicht die Rechte, um das von Gary Gygax und Dave Arnesson 1974 veröffentlichte D&D zu übersetzen und für den deutschen Markt vorzubereiten. Dieses hat bis heute eine Vorrangstellung als jenes Produkt, welches die Art und Weise des Erzählens durch ein Tischrollenspiel popularisierte: Von E.T. bis Stranger Things wird über die gesamte Dauer seiner Existenz vielen ein Bild von der Rollenspiel-Praxis D&Ds vermittelt, die selbst damit nie in Berührung gekommen sind. Wieso also nicht dieses deutlich einflussreichere Spiel untersuchen?

Filmstill aus Stranger Things

Im Vergleich zu den anglo-amerikanischen Vorlagen sind bei DSA auch kulturelle Eigenheiten festzustellen, die im Stil der Darstellungen Unterschiede und Abweichungen hervortreten lässt, die vor dem Hintergrund mit national- und literaturgeschichtlichen Traditionen besser zu verstehen sind. Augenfällig ist vor allem der detailreich ausgearbeitete Kontinent Aventurien, der mittlerweile in einer umfangreichen Bibliographie beschrieben und illustriert ist, die sich um historische Authentizität bemüht. Im Sinne einer glaubwürdigen Darstellung der frühneuzeitlichen Welt mit einigen mittelalterlichen Randbezirken, werden entsprechende Klischees bedient, die Spieler*innen bei realweltlichen Genres anknüpfen lassen: Abenteuer aus dem Mantel und Degen-Genre, Arabische Märchen, Arthus-Mythen, Wikinger-Sagen sind alle analog in einem Landstrich Aventuriens verortet. In regionaler Kohärenz dieser in maximaler Beliebigkeit zusammengestellten Spielwelt spiegelt sich das traditionsbewusstere Verständnis einer Nation mit alteuropäischer Geschichte. Man kann eigenständig Rückgriffe auf Märchen, Sagen und Mythologien tätigen; leichter in phantastischen Heterotopien visuelle und narrative Referenzen auf realweltliche Geschichte und Literatur machen. Währenddessen sind die amerikanischen Äquivalente mehr dem Fantasy als literarischen Genre im Fahrwasser von J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe verpflichtet. Dies entspricht auch mehr der verlegerischen Intention auf eben diesen Trend zu reagieren. Deshalb ist auch der reißerische Name Das Schwarze Auge statt Aventuria gewählt worden.[24] Nachdem den Autoren unklar war, was ein solches überhaupt sein soll, wurde es in seiner magischen Funktion schnell in Anlehnung an den Palantír erfunden:

Wenn ein mit magischen Fähigkeiten begabtes Wesen die Kugel reibt und dabei an einen bestimmten Ort oder an eine bestimmte Person denkt, so wird das Schwarze Auge hell, und in seinem Inneren leichtet das Bild des Gewünschten auf. Eine Spielrunde lang können nun alle Helden einer Gruppe verfolgen, was an einem fernen Ort vor sich geht. Danach wird die Kugel wieder schwarz und kann erst nach zwanzig Spielrunden wieder aktiviert werden.[25]

Die Spieler*innen des Schwarzen Auges operieren quasi homolog — zwar nicht durch eine Kristallkugel, dafür durch eine Reihe von schwarzen Heften, die wenn aufgeschlagen hell werden, Illustrationen und Geschichten bieten und dazu formale Möglichkeiten „das Gewünschte” darzustellen. Solange die Spielgruppe besteht können alle Teilnehmer verfolgen, was an einem fiktiven Ort vor sich geht. Dann verschwinden die Spielutensilien wieder in der Schachtel und erst nach einer Reihe von Werktagen versammeln sich alle wieder.

Neben einem Regelwerk erschien der schon erwähnte Aventurische Bote und sogenannte ‚Abenteuer’ als illustrierte Hefte: Sie enthielten Erzählungen zum nachspielen, d.h. auch Pläne, tabellarische Auflistungen, Zeichnungen und was sonst noch hilfreich scheint, damit man an dem spielweltlichen Geschehen teilhaben konnte, das in der laufenden Herausgabe weiterer Hefte redaktionell gestaltet wurde. So formiert sich eine ‚offizielle’ Chronik, von der man vielleicht Spielrunde für Spielrunde abweichen mag, die im Grunde aber einen verbindlichen historischen Verlauf einführt. Spielleiter*innen — emphatischer im DSA-Sprech die „Meister” — entnehmen diesen Texten sämtliche Details dieser Narrationen. Sie sind gegliedert in Allgemeine Information (zum Vorlesen), Spezielle Information, die man auf entsprechende Nachfragen herausrückt und Meisterinformation, in der die inneren Zusammenhänge und numerische Werte aufgehoben sind, also der Hintergrund, den sich die Spieler*innern erschließen. So vermitteln die Spielleitung ihren Gruppen, gemäß dem Wissensstand ihrer Charaktere, eine Welt, meist gefahrvolle Gemäuer, die durchquert werden. Sie entdecken so Stückweise durch ihre Handlungen jenen Teil der Fiktion, der ihnen überhaupt erst durch das Setting des Spiels verborgen worden ist, für das ein Sichtschirm emblematisch steht: hinter diesem breiten Spielleiter*innen ihr Material aus können und verbergen es vor den Spieler*innen. Innen ist er bedruckt mit Auszügen aus den Regeln und Kurzfassungen, außen mit einem Bild eines steinernen, schwarzen Auges.

Von Boxen zu Büchern: Spiel als Medium

Ein weites Spektrum an Produkten ist erschienen, die alle unter der Marke DSA firmieren, in denen sich diverse visuelle Strategien abzeichnen, die der Einübung der Regeln des Erzählens dienen. Man muss also selbst erst eine Spielrunde versammeln, lernen diese zu leiten, d.h. wiederum den Mitspieler*innen beibringen, selbstständig von ihren Möglichkeiten Gebrauch zu machen, in Form von regelkonformer Interaktion mit dem Ausschnitt der Spielwelt, der von der Spielleitung präsentiert wird.

Daraus erklärt sich die unfreiwillige Komik der Ausstattung dieser ersten Spiele, die nur vollständig wiederaufgelegt werden können mit den beigepackten Kuriositäten, wie die „Maske des Meisters”. Ein regeltechnisch überflüssiges Accessoire, welches die Spielleiter*innen aufsetzen sollten. Diese Sonderstellung vorher bestimmter Teilnehmer*innen einer Spielrunde ist aus anderen Brettspielen seinerzeit nicht gut bekannt gewesen. Üblicher sind kompetitive Settings unter gleichberechtigten Spieler*innen. Zugleich adressieren Spiele in Schachteln einerseits die kaufkräftigen Eltern in der Spielwarenhandlung, daheim am Spieltisch dann aber Kinder selbst, deren Lesekompetenzen auf nicht so viel Erfahrung bauen können. Die Verleger eines Spiels sind also bemüht durch das beigelegte Material — mithin Spielzeug wie Pappfiguren — die eigentliche Textlastigkeit von Rollenspielen zu übertünchen. Werner Fuchs erinnert sich:

”Aber warum gab es diese [Werkzeug-]Box? Weil Schmidt was für Brettspieler wollte, was zum Anfassen. Etwas, das weniger abstrakt war, mit Bodenplänen und Markern. Wir hatten einen Spielzeugverlag als Verleger und mussten Spielzeug liefern. Das geschriebene Wort war denen höchst suspekt. […] Und dann lag dem ganzen Unfug noch die Maske des Meisters bei. Bei der D&D-Fraktion standen wir damit richtig albern da.”

Das eigentliche Spiel ist daher kein Rollenspiel, wofür eine Maske durchaus brauchbar wäre. Es ist laufendes Organisieren und Verwalten von Informationen. Die Spielleitung weiß Bescheid und setzt die Teilnehmer*innen einer Spielrunde sukzessive ins Bild der Welt, die ausgekundschaftet wird. Nach narrativen Kriterien, die sich in Charakterdaten quantifizieren lassen wird geregelt, zu welchem Grade die Spieler*innen einbringen können.

Inwiefern bereiten Tisch-Rollenspiele Wege der Visualisierung von Wissen in zeitgenössischer digitaler Kultur vor? Daher interessiert hier vorrangig die Transformation vom Brettspiel zum markttauglichen, papierbasierten Rollenspiel; mehr noch als die Übersetzung in Computerspiele. Implizites Wissen der Brettspieler und explizites Wissen, die Faktenhuberei über fantastische Ländereien, ist im Falle eines common playground, den Aventurien bietet, in besonderer Weise verschränkt. Es erlaubt durch seine niedrigen Leistungsanforderungen — vermittelt nur durch Stift und Papier — mit plausiblen Vorschlägen die Geschichte auf nicht antizipierten Pfaden voranzutreiben ohne dabei die am Spieltisch sich formierenden Vorstellungen einer authentischen Welterfahrung zu verletzen.

Die Kaiser Retro-Box vereinigt in sich mehrere Sets, in denen diese erste Regeledition von DSA ausgeliefert wurde gemeinsam mit einzelnen Abenteuerheften. Die ersten Spieleschachteln selbst enthielten neben Regelwerken und Abenteuergeschichten verschiedene Broschüren, Formulare, Kartenmaterial und Kopiervorlagen. Die vertrauteren Spiel-Accessoires mussten in einer Box nachgeliefert werden, vor allem um die Erwartungen der Spielwaren-Produzenten selbst zu befriedigen:

„Die Schmidt-Verkäufer sollten eine Ahnung davon bekommen, was sie da eigentlich unters Volk bringen sollen. Dabei mussten wir natürlich bei Null anfangen. […] Richtig verstanden haben sie es nie. Es gab ja auch kein Spielbrett, keine festen Regeln, nur ein paar Freaks um einen Tisch, das war für die alles sehr undeutsch. Unser Job war, sie verbal zu bewaffnen, damit sie DSA dem Einzelhandel erklären konnten.”[26]

Ab der vierten Edition wurden diese Basissets eher durch aufwändig illustrierte Hardcover-Bücher ergänzt mit Lesezeichenbändchen, Tasche für Kartenmaterial und Buchrücken, der wenn man sie in der Reihe ihres Erscheinens aufstellt, den Umriss des aventurischen Kontinents zeigt. In diesen Regionalbänden konnte man mehr über bestimmte Gegenden erfahren und diese Schauplätze ausgestalten. Bestimmte Abenteuer-Kampagnen, die besonders dick auftrugen und epische Ereignisse in historischen Ausmaßen schilderten werden ebenso in solchen Sammelbänden wieder aufgelegt. Spielrunden können heutzutage entscheiden, historische Szenarien zu spielen oder in der Gegenwart und den Abenteuern nachgehen, die derzeit erscheinen. Vor allem sind die jugendlichen Spieler von einst selbst zu kaufkräftiger Kundschaft herangewachsen und fröhnen nun ihrem Eskapismus mit angemessenem Spielmaterial, das diesem zum Hobby anvancierten Spiel das nötige Gewicht gibt.

Zauberkunde: Nachschlagen als ludisches Lesen

Erwähnenswert ist zudem ein besonders opulentes Buch: Das Liber Cantiones[27] versammelt alle Zaubersprüche, welche die magiekundige Bevölkerung Aventuriens kennt in einem goldgeprägtem Kunstlederband. Darin beschrieben sind die Regeln, die gelten, wenn magiebegabte Charakteren thaumaturgische Effekte in die Spielwelt setzen möchten. Wer also darin nachschlägt, benutzt es nicht nur als enzyklopädisches Druckwerk; es ist zugleich ein Requisit. Denn auch die akademisch organisierten Gildenmagiere des Schwarzen Auges benutzen Zauberbücher, um ihr Wissen zu tradieren, zu erweitern und anzuwenden. Wie der virtuelle Würfel in Baldur’s Gate, taucht plötzlich am realweltlichen Interface zu Aventurien — hier also am Spieltisch — ein Artefakt auf, dessen Existenz bislang vom Spiel simuliert wurde.

Im schieren Volumen des Liber Cantiones, vor allem im Vergleich zur Handvoll Zaubersprüchen der ersten Version, zeigt sich wieder die expansive Tendenz der Bürokratisierung: In Regeln reichert man die Spielwelt mit immer mehr Möglichkeiten an; oder man verbessert Designs, die von der Spielerschaft nicht gut angenommen werden. Im redaktionellen Prozess gibt es für die aventurische Spielwelt schon vor Server-betriebenen Computerspielen updates und patches, deren Notwendigkeit sich erst aus ersten Erfahrungswerten ergibt, die man mit der Anwendung des Spielprogramms sammelt. In den Anfangstagen gab es nicht genug Zaubersprüche, um einen ganzen Band zu füllen. Es genügte einen Zauberspruch richtig aufzusagen, und den damit ausgelösten magischen Effekt auszuführen, z.B. Würfel werfen und veranschlagten „Astralenergie”-Kosten auf dem „Dokument der Stärke” zu verbuchen:

Auch kommt es gelegentlich auf eine schnelle Reaktion des Zauberers an. Ein Beispiel aus dem Spielgeschehen: MEISTER: ‚Ihr geht durch einen dunklen Tunnel. Plötzlich schlüpft ein Tatzelwurm aus einer Öffnung in der Wand!’ SPIELER DES MAGIERS: ‚Ha! Ich schleudere ihm ein FULMINICTUS - Donnerkeil (Kampfzauber) entgegen!’ Stellen Sie sich vor, der Spieler sagte stattdessen: ‚Kann ich mal das Regelbuch haben? Ich glaube, da gibt es irgendeinen Kampfzauber, der jetzt ganz gut passen würde …’ Bis der Spieler die Formel findet, hat der Tatzelwurm den Helden womöglich schon verspeist. Magiekundige Helden zu führen, stellt für jeden Spieler eine überaus reizvolle — wenn auch nicht ganz einfache Aufgabe dar. Wenn sie also einmal einen Elfen oder Magier spielen wollen, prägen sie sich bitte die folgenden Typenbeschreibungen gut ein.[28]

Durch Zaubern nehmen Spieler*innen Anteil an Aventurien in der Art, die eigentlich der Spielleitung zu eigen ist. Sie können einfach kodifizierte Effekte in die fiktionalisierte Welt setzen. Das Memorieren und die regelkonforme Anwendung von Spruchmagie inseriert eine uns nicht vertraute Gesetzmäßigkeit, die den Spielfluss aber so nicht stört. In den Worten Huizingas: „Für den frühen Menschen bedeutet etwas können und wagen Macht, etwas Wissen aber Zaubermacht.”[29]

In der Spielfigur des Magiers formuliert sich eine Kritik an anderen Spielsystemen, die wiederum die magischen Aspekte auf die regeltechnischen Effekte auf die Kampfhandlungen reduzieren: „In vielen Phantasie-Geschichten — und wohl auch in manchen Phantasie-Spielen — sind die Mitglieder der Magiergilde zu einer Art pyrotechnischer Hilfstruppe der anderen Heldentypen herabgesunken. Die Magier des Schwarzen Auges sind ein anderer Menschenschlag. Sie betreiben ihre Kunst mit dem ganzen Ernst eines Wissenschaftlers.”[30] Daher sollen auch sonst stimmige Darstellungen der Charaktere mit Abenteuerpunkten belohnt werden. Eine Spielwährung, die Erfahrung abbildet und somit sukzessive die Werte der Held*innen verbessert, d.h. ihre Chancen erhöht, weitere Abenteuer zu bestehen.

Anschaulichkeit, verstanden als typographische Wissensordnung, visualisiert zwischen zwei Buchdeckeln Welt selbst als virtuellen Raum, der eigenständig navigiert werden kann.[31] Somit wurde das Buch als vorrangige Benutzerschnittstelle prämiert, das nun spätestens seit der Allgegenwart elektronischer Displays in Smartphones herausgefordert ist. Das Interaktionsangebot von tabletops zeigt, dass die Kulturtechnik des Blätterns erweitert werden kann, ohne damit nur in Opposition zum hypertextuellen Aufrufen von Information zu bestehen.[32] Zwischen Blättern und Nachschlagen — ergänzt um Würfeln, Kartographieren, Ausfüllen von Formularen — formiert sich ein ludisches Lesen, das mit Blick auf Caillois’ Tabelle eine Kontinuität von anarchischem, subversivem Kinderspiel mit dem Buch (zufälliges Blättern, wie z.B. Bibelstechen) bis hin zur regelgeleiteten, aber nicht konsequenten Auseinandersetzung mit dem Inhalt eines Buchs, was unter Dramaturgen als worldbuilding verschlagwortet ist: die detailreiche Ausstattung eines Schauplatzes und seiner Bewohner über das hinaus, was eigentlich inszeniert und erzählt wird. DSA operationalisiert das Nachschlagen als Kulturtechnik, mit der die Teilhabe an der fiktiven Welt Aventuriens organsiert wird.

Literatur

  • Apprich, Clemens; Götz Bachmann: Mediengenealogie. Zurück in die Gegenwart digitaler Kulturen. In: Gertraud Koch (Hg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung. Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft, 2017, S. 405–25
  • Stefan Donecker, et al. (Hg): Forschungsdrang und Rollenspiel. Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge. Waldems: Ulisses Medien und Spiel Distribution, 2019.
  • Caillois, Roger. Man, Play, and Games. Illinois paperback. Urbana: Univ. of Illinois Press, 2001.
  • Don-Schauen, et al. (Hg.): DSA4 - Liber Cantiones. Waldems: Ulisses Medien und Spiel Distribution, 2023.
  • Ende, Michael. Die unendliche Geschichte. 8. Aufl. Stuttgart: Thienemann in der Thienemann-Esslinger, 2019.
  • Graeber, David. The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy. First Melville House paperback printing. Brooklyn, NY London: Melville House, 2016.
  • Huber, Simon. „‚wann er also das ganze Buch durchlauffen‘. Über die Virtualität des Raumes im Orbis sensualium pictus (1658)“. In Digital Public History: analytische Zugänge und Lernpotenziale digitaler Geschichte, herausgegeben von Christine Gundermann, Barbara Hanke, und Martin Schlutow, 213–30. Geschichtsdidaktik diskursiv - Public History und Historisches Denken, Band 12. Berlin Bruxelles Chennai Lausanne New York Oxford: Peter Lang, 2024.
  • Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 21. Aufl. Hamburg: rororo, 2009.
  • Kiesow, Ulrich, und Ina Kramer. DSA1 - Kaiser-Retro-Box. New Edition. Waldems: Ulisses, 2018.
  • Krämer, Sibylle. „‚Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift.“ In: Krämer, Sibylle; Bredekamp, Horst (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. Kulturtechnik. München: Fink 2003, S. 157–75.
  • Lötscher, Christine. „Warum Fantasy?“ Geschichte der Gegenwart. Geschichte der Gegenwart, 2023. <https://geschichtedergegenwart.ch/warum-fantasy/.\>[01.07.2024]
  • McLuhan, Marshall. Heiße Medien und kalte. In: Claus Pias, et el. (Hg.): Kursbuch Medienkultur: die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 6. Aufl., München: DtV 2008, S. 45–54.
  • Müller, Lothar: Weisse Magie. Die Epoche des Papiers. München: Carl Hanser Verlag 2012.
  • Rautzenberg, Markus, Rolf Nohr, Claus Pias, und Gabriele Grammelsberger. „Spielförmige Emergenz: Für eine Neubestimmung der Spielwissenschaften“. Paidia - Zeitschrift für Computerspielforschung (blog), 15. Oktober 2021. https://www.paidia.de/?p=15201.

Simon Huber

studierte Geschichte, Bildungs- und Kulturwissenschaften; beforscht seit über 10 Jahren Wissenspopularisierung durch Spiele. Seine Dissertation Die Emergenz der Anschaulichkeit in Comenius’ Orbis pictus (1658) erhielt den Staatspreis des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (Award of Excellence). Er lehrt and der Universität für Angewandte Kunst und der FH des BFI Wiens; organisiert im Zuge ehrenamtlicher Tätigkeit die Ludologischen Symposien und publiziert online unter www.secondsunrise.at.


  1. Larian Studios: Baldur’s Gate 3, 2023. ↩︎
  2. Wizards of the Coast: Dungeons & Dragons, 2014. ↩︎
  3. Vgl. dazu das sogenannte System Reference Document, das die Regeln komplett (wohl aber ohne ausschmückenden Textbeispielen und Illustrationen) beinhaltet und frei im Internet verfügbar ist: <https://www.d20srd.org/>, [15.6.2024] ↩︎
  4. Blizzard Entertainment: World of Warcraft, 2008. ↩︎
  5. BioWare: Baladur’s Gate, 1998; BioWare: Baldur’s Gate II: Schatten von Amn, 2000. ↩︎
  6. Die Tischrollenspiel-Praxis erfährt gewiss auch neue Popularität durch weithin bekannte Inszenierungen wie in der Netflix-Serie Stranger Things, die D&D als Teil der 80er-Jahre Jugendkultur nostalgisch verklärt, aber auch nochmals die öffentliche Kontroverse, die damals geführt wurde, in Erinnerung ruft. Jedenfalls ist das mit Spannung erwartete Ergebnis eines kullernden zwanzigseitigen Würfels in der Montage mit einem auf dem Korb springenden Basketball parallelisiert und zur Klimax stilisiert. ↩︎
  7. Vgl. Bolter; Grusin: Remediation. 2001. ↩︎
  8. Apprich; Bachmann: Mediengenealogie. 2017, 405. ↩︎
  9. Vgl. Müller: Weiße Magie. 2012. ↩︎
  10. Vgl. Krämer: Schriftbildlichkeit. 2003. ↩︎
  11. Vgl. Felsch: Sommer der Theorie. 2015. ↩︎
  12. Vgl. McLuhan: Heiße und kalte Medien. 2004 [1964], 45. ↩︎
  13. McLuhan: Heiße Medien und kalte. 2004[1964], 53. ↩︎
  14. Graeber: The Utopia of Rules. 2016, 113. ↩︎
  15. Ebd., 115. ↩︎
  16. Lötscher: Warum Fantasy? 2023, online: https://geschichtedergegenwart.ch/warum-fantasy/. ↩︎
  17. Ende: Unendliche Geschichte, 2019. ↩︎
  18. Graeber: Utopia of Rules. 2016, 119. ↩︎
  19. Vgl. Caillois: Man, play and games. 2001[1956], 36. ↩︎
  20. Graeber: Rules of Utopia. 2016, 121. ↩︎
  21. Huizinga: Homo Ludens. 2009, 38. ↩︎
  22. Donecker, et al. (Hg.): Forschungsdrang und Rollenspiel: Motivgeschichtliche Betrachtungen zum Fantasy-Rollenspiel Das Schwarze Auge, 2019. ↩︎
  23. Die Kaiser Reto-Box versammelt die ersten Regelhefte mit einem Nachwort des letzten, verbliebenen der Originalautoren — Werner Fuchs — und dazu die ersten Ausgaben des Aventurischen Boten. Das macht diese frühen Texte mit der Festlegung einiger Kürzel sehr gut zitierbar: Buch der Abenteuer (BdA), Buch der Regeln (BdR), Buch der Macht (BdM). ↩︎
  24. Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 66 (BdR). ↩︎
  25. Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 57 (BdR). ↩︎
  26. Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 62 (BdA). ↩︎
  27. Don-Schauen; Römer; Weste: DSA4 - Liber Cantiones. 2023. ↩︎
  28. Kiesow, Kramer: Kaiser Retro. 2018, 47 (BdR). ↩︎
  29. Huizinga: Homo Ludens. 2009, 119. ↩︎
  30. Ebd., 49. ↩︎
  31. Vgl. Huber: „wann er also das ganze Buch durchlauffen”, 2024. ↩︎
  32. Vgl. Bickenbach: Bildschirm und Buch. 2023. ↩︎