King Kong isoliert die Mutterliebe
Auf den ersten Blick ist es kitschig: der entzückende, kleine Fuzzy (Erik Per Sullivan) stirbt während er allein mir Dr. Larch King Kong schaut, der seinen Patienten gerade palliativ versorgt. Der Alte (Michael Caine) bemerkt es, wie er versucht den Film wieder zusammenzukleben. Die Analogie von Filmriss und verfrühter Tod — deutlicher geht’s kaum.
Kino und Buch — Drehbuch und Romanvorlage
Doch mehr ist dran, an dieser Inszenierung von John Irvings Roman Cider House Rules; zumindest ein sehr figuratives Denken über Film. Der Autor übersetzte selbst in ein Drehbuch und bringt dabei zweierlei Arten von Bildern in ein bestimmtes Verhältnis: die im Text imaginierten und die technisch reproduzierten.
Die Protagonisten Homer Welles (Tobey Maguire) und Candy Kendall (Charlize Theron) diskutieren im Film explizit die dichten Zusammenhänge von sozialer Praxis des Filmschauens und dem Kino selbst:
- Sie meint, der Film sei nicht wichtig: es ginge viel mehr um die Privatsphäre, die durch das Auto durch das technische Ensemble des Autokinos geschaffen wird. Die leere Filmleinwand auf die sie dabei kuschelnd schauen ist Probe aufs Exempel.
- Er hält abschließend fest, dass er sich sicher den Film ansehen würde, wenn denn einer liefe. Sogar, wenn er ihn schon in-und-auswendig kennt, wie er das im Fall von King Kong mit Fug und Recht behaupten könne. Im Waisenhaus, aus dem er stammt, gab es nur diesen einen.
Der Naive, der gerade aus diesem Waisenhaus direkt in seine erste Romanze stolpert, ist sofort seiner Blauäugigkeit überführt, sitzt er doch erst wegen liebestoller Avancen im Autokino. Deshalb kann er auch nicht bestreiten, dass der Film Nebensache ist und nur trotzig behaupten, dass er den Film schauen würde, wenn da einer liefe.
Letztlich gelingt die Synthese zweier konträrer Meinungen. Der lehrbuchhaften Dialektik entsprechend laufen ja auch die Argumentationen exakt parallel. Homer betont genauso die Wichtigkeit des sozialen Geschehens: Immer wenn Filmabend war, drängte man sich im Heim in erster Reihe zusammen, so dicht, „dass man einander Atmen hören kann.“ Obwohl eben immer nur King Kong gezeigt wird. Der Film ist Alles und alles Filmschauen ist in einem.
Systematische Verwaisung
Waisenhäuser und Rendezvous. Das eine folgt aus dem Anderen. Zwei finden sich in der Dunkelheit des Lichtspielhauses, was von der Einrichtung eines solchen gar nicht vorgesehen ist: die Sessel sind alle auf die Leinwand ausgerichtet. Solche Vorführungen bleiben dann nicht folgenlos und eben diese Folgen müssen mitunter vermeintlichen Familienglücks entbehren. Die Waisen vertreiben sich in der selben Dunkelheit wie die Liebenden die Zeit, bis sie gefunden und adoptiert werden. Der Filmapparat wird uns gezeigt als Experimentalsystem, in welchem man versucht, das die Körper verbindende Element zu isolieren: Liebe.
Der Gesamtabsturz des Systems spiegelt sich im Versagen des Organismus von Fuzzy, der ja seinerseits durch einen improvisierten Apparat gestützt war. Für ihn war alle Welt durch ein Fenster wahrgenommen, gleichsam Film. Sein Körper ist isoliert, er gehört nicht zur sich zusammenrottenden Meute, also kann man ihn vermutlich auch nicht atmen hören. Dafür ist offensichtlich, wie er beim Atmen unterstützt wird und man muss schließlich Licht machen im Vorführsaal, um zu sehen, dass er damit aufgehört hat. Das Mehr an Zuwendung, welches dieses vereinzelte Waisenkind benötigt, drückt sich genauso wie für die Gesamtheit an Waisenkindern bestellte Zuwendung aus: nämlich in solchen, um sie herum organisierten Systemen. Sonst erhalten Kinder ganz organisch durch ihre jeweiligen Mütter Liebe, welche wiederum von den um sie herum gebauten patriarchalen Konstrukten namens Familie gestützt sind. Der Filmapparat ist hier ein bypass, der infarzierte Herzen mit Mutterliebe versorgt.
Von den Waisen wird King Kongs Obsession mit der weißen Frau auch damit erklärt, dass er sie für seine Mutter hält. Das erste Monster, das der Film selbst erschafft — es gibt für King Kong keine literarische Vorlage — entführt und isoliert so die Mutter. Durch die wird das Begehren eingeübt, das wiederum die Zuschauer im Kinoapparat engagiert: Tricktechnik vom Feinsten.
Schwarz auf weiß geschrieben
Dabei könnte man meinen, der medientheoretische Dialog profiliere nur die Charaktere. Die titelgebenden Cider House Rules sind Regeln, die Weiße Gutsherren ihren Schwarzen Gastarbeitern auferlegt haben, wie sie sich beim Leben und Schuften in der Betriebsanlage zu verhalten haben. Wie Homer Wells in eben dieses cider house einzieht, stellt der Chefarbeiter Mr. Rose (Delroy Lindo) verblüfft fest, dass hier gerade Geschichte geschrieben wird: ein Weißer kommt bei Schwarzen unter! Die beliebigen und redundanten Regeln hängen ohne befolgt zu werden auf einem kleinen Stück Papier im cider house und können überhaupt erst durch den alphabetisierten Homer erstmals vorgelesen werden. So nichtssagend sie weiterhin selbst sind, so zentral hängen sie im innersten der Erzählung, wo auf sie die äußersten Herrschaftsverhältnisse der Geschichte projiziert werden: schwarz auf weiß. Die in diesem höchst intimen Raum konfligieren Rassismus, Kolonialismus und Patriarchat und verkomplizieren zunehmend die Idylle Maines.
Das Stück Papier im cider house wird verbrannt, so wie sich die Geschichte entwickelt. Der Film King Kong im Waisenhaus hingegen läuft weiter. So ist klar, wie sich dort wie da im innersten des jeweiligen Herrschaftsapparate das Narrativ des Frauenraubs aus Muttermangel abspielt. In einem schwarz-weißen Zerrspiegel werden die rassistischen Schwarz-Weißen Deutungsmuster angelegt, die von der Handlung durcheinander gebracht werden. Aus der Peripherie des Patriarchats reist der Held Homer ins Zentrum des Geschehens, durchlebt all die unübersichtlichen sozialen Turbulenzen, um zu einem wirklich Weißen Mann heranzureifen — einem Arzt — und wieder zurückkehrt und ins System eingegliedert wird. Ein klassischer Bildungsroman als Drehbuch, der von einem Reifeprozess zeugt, der ohne Mutterliebe auskommen musste. Die Geschichte endet, dass wieder in der Dunkelheit des Schlafzimmers den Waisen aus einem Buch vorgelesen werden kann — aus einem Bildungsroman.
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