Topographien des Lesens

Topographien des Lesens
Bücher virtualisieren schon länger Welt, als sogenannte Neue Medien.

Spielerische Verwendungen des Buchs zur Wissensvisualisierung

Dies ist ein Exposé für ein Forschungsprojekt, welches das Buch als Benutzerschnittstelle von Wissen auffasst – eine These, die aus der bisherigen Analyse der Anschaulichkeit resultiert. Somit werden nicht diverse Medienphänomene (Filme, Fernsehserien, Computerspiele, etc.) erst zum Text gemacht, um es mit dem gängigen hermeneutischen Arsenal zu interpretieren; sondern vielmehr umgekehrt Texte als Teil eines Buchmediums verständlich, dass in verschiedenen Zusammenhängen in Form unterschiedlicher Bedeutungen anschlussfähig sein kann. Somit ist diese Herangehensweise Beitrag zu einer noch nicht kohärenten Ludologie, bzw. der sie begründenden Kulturtechnikforschung.

Eine Mediengenealogie der Anschaulichkeit

Gemäß der Kulturtechnikforschung historisiert man Wissen von jenen Mitteln aus, mit denen laufend basale Unterscheidungen prozessiert werden: eine Seite in einem Buch entscheidet für das jeweilige Narrativ zwischen vorher/nachher. Erzählungen werden eingefaltet und in eine räumliche Ordnung gebracht. Lesende entschlüsseln Text nicht Wort für Wortsinn, sondern führen ihn sich selbst Seite für Seite vor. Abseits kognitiver Dechiffrierung von Schrift, zielt die Topographie des Lesens darauf ab jenes Terrain visueller Kultur zu kartieren, in welchem Wissen zur selbsttätigen Aneignung bereit gestellt wird.

Die Form des Buches ist heute herausgefordert durch Möglichkeiten, die digitale Ausgabegeräte und generativer Sprachprogramme eröffnen. Mittels KI lässt ein jede*r immense Textmengen lesen und kurzfassen. Eine spielwissenschaftliche Heuristik ordnet die gängige Handhabe von Text — in Büchern oder auf Bildschirmen — so, dass verständlich wird, wie Wissen emergieren kann.

1. Sinn: Buch ohne Buchstaben

Im 17. Jahrhundert übersetzt Comenius in seiner Bildenzyklopädie Orbis pictus diverse rhetorische Figuren der Veranschaulichung in eine typographische Ordnung. Damit wird ein Prinzip der Wissensvermittlung etabliert, das darauf abzielt, Leser*innen durch wiederholtes Durchblättern von grundlegender Alphabetisierung, über basales Lateinverständnis hin zu einer allgemeinen Weltgeschichte zu führen. Anschaulichkeit adressiert unbedarfte Vorschulkinder direkt; sie sollen eigenständig durch die Bildwelt navigieren.(fn)

356 Jahre später radikalisiert Marc Antoine Mathieu diese Idee in einer Graphic Novel, die ganz ohne Buchstaben auskommt. Der titelgebende Pfeil wird im Fall des französischen Originals in Katalogen mit Sens übersetzt: Sinn, aber auch Richtung. ++Daraus entsteht noch kein Wissen über die Welt; dafür kann man sehen, wie Buchgebrauch allein weltstiftend wirkt. ++Welches Wissen bleibt im Buch, das vom buchstäblichem Sinn befreit ist? Mathieus Titel könnte auch als „Leserichtung“ buchstabiert werden. Er exemplifiziert die vor-diskursive, kulturtechnische Bedingtheit des Operierens mit Büchern (vgl. Siegert 2020; Koch, Köhler 2013).

2. Erkenntnisinteresse: Neues Lesen in Alten Medien

Wie wird Wissen veranschaulicht unter den veränderlichen Bedingungen des „Postprint-Zeitalters“? (Katherine Hayles spricht in ihrem Buch Postprint. Books and Becoming Computational (2021) die kognitiven Leistungen der Text-Interpretation nicht mehr nur Menschen zu, sondern auch den maschinellen Arrangements; um diese Annahme zu prüfen, sind die Lesepraktiken zu historisieren, welche der kognitiven Verarbeitung vorausgehen.) Weniger differenzierte Einschätzungen betonen die Rückständigkeit des Buches. Blättern steht in Opposition zum ‚smarten‘ Prozessieren von Wissen in Suchbegriffen und Befragungen künstlicher Intelligenzen (vgl. Bickenbach 2023, 7).

Doch Lesen verlangt in jedem Fall ein Mindestmaß an Hand-Auge-Koordination

„[J]edes Lesen ist zunächst einmal ein Blättern“ (Strouhal 2019, 29) — oder auch klicken und scrollen.

Es lässt sich bei näherer Betrachtung nicht auf reines Dechiffrieren von Schriftzeichen reduzieren. Angefangen bei der Auswahl von relevanten Titeln; die Reihung in Regalen; Stapeln auf Schreibtischen, das Herunterladen auf ein digitales Endgerät.

Ein medienarchäologischer Vorsatz lautet, „nicht Altes, das schon immer Dagewesene, im Neuen suchen, sondern Neues, Überraschendes im Alten entdecken“ (Zielinski 2002, 12). In der Buchgestaltung sind Voraussetzungen für Lesbarkeit impliziert, die gegenwärtig unter computertechnologischen Bedingungen neu verhandelt werden. Es bedarf also genauerer Analyse der Interferenzen von Textinhalten, Schriftbildern und Buchform, um zu verstehen, wie Wissen durch die sogenannte Digitalisierung anders zirkuliert bzw. mithin das Lesen verändert.

3. Methodik: Medienarchäologie und -Genealogie

Um die Medienarchäologie der Anschaulichkeit im 17. Jahrhundert auf die Gegenwart zu beziehen, wird sie in eine Mediengenealogie überführt (vgl. Apprich, Bachmann 2017). Anschauliche Buchgestaltung könnte man dahingehend als „die Erfindung der Erfindung“ eines Buches zu Zwecken der spielerischen Wissensvermittlung nennen.

Die Mediengenealogie geht bei der Historisierung gegenwärtiger Technologien „inversiv“ (ebd., 412) vor. Anstatt etwa das neue Phänomen „Computerspiele“ mit einem Methoden-Set etablierter Disziplinen zu bearbeiten, werden vielmehr Erkenntnisse der Game Studies auf Bücher angewandt: Alle und nicht zuletzt die Wissenschaften selbst sind auf die Interfaces — wie auch Bücher — angewiesen, die das Kommunizieren mit und durch Maschinen informieren.

„Emergenz – als strukturelles Phänomen – kann nur als eine Ausdifferenzierung vorangehender Prozessbedingungen verstanden werden und muss daher per se dynamisch verlaufen.“ (Rautzenberg et. al. 2021)

Gesucht werden Korrespondenzen zwischen elektronischer Datenverarbeitung und Buchdruck auf Ebene visueller Kultur der Wissensgeschichte (vgl. Pias 2015, 48–67).

Begriffe wie close, distant und scalable reading beschreiben im Kontext von Druckwerken weniger Methoden, die durch Computertechnologien den Digital Humanities ermöglicht wurden (vgl. Fickers, Clavert 2021); vielmehr sind diese Wege des Lesens bereits in Buchdesigns angelegt. Sie materialisieren sich in Schriftbild und Format eines Druckwerks — können also ebensowenig wie der Buchrücken digitalisiert werden (vgl. Fahle et. al. 2020).

4. Heuristik: Drei Arten des Nicht-Lesens

Wer mit Büchern spielt, liest sie eben nicht. Eine spielwissenschaftliche Heuristik des Nicht-Lesens erörtert, wie bei der Lektüre Wissensvermittlung jenseits des Schriftbezugs geschieht: zu unterscheiden ist Kinderspiel (paidia/play), regelgeleitetes Spiel (ludus/game) und strategisches Spiel, das Ernstfälle simuliert.

  1. Blättern: Kinder üben spielerisch den Umgang mit Wissen anhand von Bilderbüchern ein. Ihr anarchischer Zugang ist maßgeblich für die materielle Gestaltung des Buchartefakts.
  2. Querlesen: Die Texte eines Buchs werden nicht bloß vorgelesen; sie sind ludisch organisiert, dass sie mittels Querverweise (Inhalt, Paginierung, Fußnoten, Index, etc.) den Leser*innen Möglichkeiten bieten, gezielt bestimmtes Wissen aufzurufen. Die Verweissysteme werden manuell operiert und inkorporieren so intellektuelle Tätigkeiten.
  3. Stapeln: Aus jeder Bücher-Sammlung ergibt sich eine Leserichtung und so Prioritäten und Beziehungen zwischen den Titeln. Es lassen sich strategische Erwartungen ablesen, wie vorausgehende Lektüre die Folgende beeinflusst: ein Lesen zweiter Ordnung, aus dem vergleichbar zum Bilderbuch eine Pädagogik erwächst, die wohl aber von Lesekundigen ausgeht.

Wie Bücher geblättert, quergelesen und gestapelt werden, um sich in spielerischer Auseinandersetzung Wissen anzueignen gilt es zu untersuchen. Schon genannte Beispiele, wie Orbis pictus oder Sens sind Querschnitte einer „langen Dauer“ der buchförmigen Vermittlung. Das implizierte Wissen wird als im Buch situiert aufgespürt. Daher interessiert, wie es angewandt und modifiziert wird, um neue Erkenntnis zu erschließen. Es braucht ein Forschungsdesign, das den Regeln Rechnung trägt, welche die Spiele mit Büchern heute konstituieren, die sich aber nicht notwendig sich aus einem Buch selbst ergeben.

5. Forschungsdesign: Vergegenwärtigung der Anschaulichkeit

Vorbild liefert Phillip Felschs „Gattungsgeschichte der Theorie“, die längs der Geschichte des Merve-Verlags ausgelesen wurde. Im Bezug auf akademische Lesekultur ließe sich das Problem von Theorie als „Retro-Phänomen“ (Felsch 2015, 239) weiterführen, und auf die Konjunktur des Sammelbandes beziehen, die dieser seit den 90er-Jahren verzeichnet (Hagner 2015). Repräsentieren Sammelbände eine Leistungsschau kollektiver, transdisziplinärer Forschung, die keine universale — gleichsam monografische — Theoriebildung mehr Aussicht stellt? In der Kompilation von Readern zur Einführung zeigt sich analog das Buch als konzeptuelles Objekt; vor-gestapelt, um Lesende ins Bild vom Stand der Dinge zu setzen. Diese Fragen werden einem Einführungs-Proseminar erörtert, wo Student*innen „sich Themen und Phänomene der digitalen Gegenwart mit Hilfe des ‚historischen Sinns‘ selbst aneignen“ (Apprich, Bachmann 2017, 424) — sprich: sich einlesen.

Sodann wurde eine genealogische Abstammungslinie isoliert, in der ein gründlicheres Verständnis der digitalen Gegenwartskultur vermutet wird: nämlich der papiernen Form anschaulicher Bücher, die vom Bilderbuch bis zum Handbuch Wissen den Lesenden zur Aneignung bereit stellt. Derart archäologisch freigelegt, gilt es durch ethnographische Forschung auch die Wechselwirkung zu erklären, in welcher Buchkultur jeweils andere Spielformen hervorbringt. Die Kulturtechniken des Lesens variieren durch „Neue Medien“, die rund um die letzte Jahrtausendwende sich breitenwirksam durchsetzen.

Dazu eignet sich das Pen’n’Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge (DSA). Seit 1984 werden Fantasy-Abenteuergeschichten publiziert, die in Spielrunden multiperspektivisch nacherzählt werden. Diese Narrationen fußen auf ludischem Lesen, das sich popularisierter Verfahren von militärischen Planspielen bedient (vgl. Pias 2010, 277). Mittels Regelbüchern, Tabellen, Formularen, Karten und Plänen werden Geschichtsverläufe ausgehandelt. Durch Würfel wird die Ergebnisoffenheit von Handlungen simuliert. Via oral history ist geplant, die Effekte des ludischen Lesens von Spielerinnen bzw. Redakteurinnen selbst in Kontext des allgemeinen Medienwandels stellen zu lassen.

Nicht nur formal ist zu beobachten, dass neuere Auflagen von DSA in illustrierten Hardcover-Büchern erscheinen — anstatt billig geheftet in Spielschachteln; auch inhaltlich werden die Episoden, die an diversen Spieltischen parallel stattfinden, in einer allgemeinen Geschichte des fiktiven Kontinents redaktionell gerahmt. Das Wissen der Lesenden wirkt nicht nur in schulischer Vermittlung und akademischer Recherche, sondern ist auch in Populärkultur am Werk, wo mit „Heiligem Ernst“ (Huizinga) ein Lesen im Sinne des Spiels gepflegt wird.

Literatur

  • Apprich, Clemens & Götz Bachmann (2017): Mediengenealogie. Zurück in die Gegenwart digitaler Kulturen. In Gertraud Koch (Hrsg.), Digitalisierung: Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung, 405–425. Konstanz München: UVK Verlagsgesellschaft.
  • Bickenbach, Matthias (2023): Bildschirm und Buch: Versuch über die Zukunft des Lesens. Berlin: Kadmos.
  • Felsch, Philipp (2015): Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 1960-1990. München: Verlag C.H.Beck.
  • Fickers, Andreas & Frédéric Clavert (2021): On pyramids, prisms, and scalable reading. Journal of Digital history. DeGruyter.
  • Hagner, Michael (2015): Zur Sache des Buches. 2., überarbeitete Auflage. Göttingen: Wallstein.
  • Hayles, N. Katherine (2020): Postprint: books and becoming computational. New York: Columbia University Press.
  • Krämer, Sybille, Eva Christiane Cancik-Kirschbaum & Rainer Totzke (Hrsg.) (2012): Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie Verlag.
  • Mathieu, Marc-Antoine (2015): Richtung. Berlin: Reprodukt.
  • Müller, Lothar (2012): Weisse Magie. Die Epoche des Papiers. München: Carl Hanser Verlag.
  • Pias, Claus (2010): Computer Spiel Welten. Zürich: Diaphanes.
  • Pias, Claus (2015): Das (endlos) bewegte Buch. In Claus Pias & Heike Gfrereis (Hrsg.), Das bewegte Buch: ein Katalog der gelesenen Bücher, 48–67. Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft.
  • Rautzenberg, Ursula & Ute Schneider (Hrsg.) (2015): Lesen: ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin ; Boston: De Gruyter.
  • Rautzenberg, Markus, Rolf Nohr, Claus Pias & Gabriele Grammelsberger (2021): Spielförmige Emergenz: Für eine Neubestimmung der Spielwissenschaften. Paidia - Zeitschrift für Computerspielforschung https://www.paidia.de/?p=15201 (letzter Zugriff 12.01.2022).
  • Siegert, Bernhard (2020): Attached: The Object and the Collective. In Jörg Dünne, Kathrin Fehringer, Kristina Kuhn & Wolfgang Struck (Hrsg.), Cultural Techniques: Assembling Spaces, Texts & Collectives, 131–140. Berlin: De Gruyter.
  • Strouhal, Ernst (2019): Gespräch mit einem Esel. Vom Lesen mit dem Daumen. Wien: Brandstätter.
  • Zielinski, Siegfried (2002): Archäologie der Medien: zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Hamburg: Rowohlt.